Schwarz
zwei Pillen, seine Reservedosis Dialar für den Notfall. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Die Medikamentedienten als Fessel, mit der er die Vergangenheit tief in seinem Inneren einsperrte.
An der Station Rautatientori stieg Kara aus der Metro aus und beschloss, einen kurzen Abstecher in den K-Market im Bahnhofstunnel zu machen. Er legte eine große Flasche Cola in seinen Einkaufskorb, zwei Tiefkühlpizzen und drei Flaschen Bier der Marke Brakspear Oxford Gold und stellte sich dann an der Kasse an. Diese Schlange musste in Helsinki einer der geeignetsten Orte sein, wenn man seltsame Typen beobachten wollte, fand Kara, als er einen zitternden etwa sechzigjährigen Mann sah, der sich ängstlich umschaute, seinen Einkaufskorb auf den Boden stellte und erschrocken aus dem Laden hinaushastete. Ein Panikanfall, vermutete Kara. An den Kassen standen etliche Männer mit Bierpackungen an. Und dieses laut kichernde junge Paar mit Süßigkeiten und Chips im Arm hatte garantiert gerade
Munchies
. Kara wusste nicht, ob es in der finnischen Sprache ein Wort für die hemmungslose Fressgier gab, die durch das Rauchen von Marihuana ausgelöst wurde.
Anscheinend passierten ihm in seinem Leben nur düstere Dinge. Er fühlte sich so müde und abgespannt wie nie zuvor.
21
Mittwoch, 6. Mai
Jolanta Ziluite war mulmig zumute. An der Tür des Hotelzimmers Nummer 882 hing um zwölf Uhr das Schild »Bitte nicht stören«. Das war nichts Besonderes, Hotelgäste, die kräftig gefeiert hatten, schliefen zuweilen bis zum Abend, das war klar. Aber die meisten von ihnen meldeten sich wenigstens, wenn man an die Tür klopfte, oder spätestens dann, wenn die Rezeption anrief. Dieser Gast jedoch antwortete nicht. Am wahrscheinlichsten war natürlich, dass er das Schild beim Verlassen des Zimmers an der Klinke vergessen hatte, aber Jolanta fürchtete trotzdem, dass es um etwas anderes ging. Der Herr, der sich gestern für fünfhundert Euro ihren Universalschlüssel geliehen hatte, war ein paar Minuten in diesem Zimmer gewesen. Warum zum Teufel war sie auf den Vorschlag des Mannes eingegangen? Sie hatte ihren Arbeitsplatz, ihre Zukunft, einfach alles in Gefahr gebracht. Zu Hause in Litauen müsste sie weit über zehn Jahre hart arbeiten, um so viel Geld zurückzulegen, wie sie hier in Finnland innerhalb von zwei Jahren verdiente. In Vilnius bekäme sie niemals genug Startkapital zusammen, um ein eigenes Restaurant eröffnen zu können.
Die Reinigungskräfte des Hotels »Vaakuna« durften nach zwölf Uhr die Tür des Hotelzimmers öffnen, wenn der Gast nicht auf das Klopfen und den Kontrollanruf der Rezeption reagierte, so wie der Bewohner von Zimmer 882. Jolanta zitterte die Hand, als sie die Keycard in das Lesegerät schob, sie wiederholte leise das »guten Tag« auf Finnisch, das sie gleich sagen wollte, stieß die Tür auf und sah etwas auf dem Fußboden liegen. Dann hallte durch den Flur in der siebten Etage des Hotels ein Schrei, der das Blut in den Adern gefrieren ließ, und Jolanta Ziluite stürzte davon, so schnell sie ihre Beine trugen.
Leo Kara lag auf dem Parkett wie ein Embryo, neben ihm seinMageninhalt, eine leere Dose Dialar und eine leere Packung Temazepam und dazu eine Flasche Linie-Aquavit, der größte Teil des Schnapses bildete eine Pfütze auf dem Boden. Der Gestank war widerlich. Auf dem Bildschirm des Laptops, der auf dem Schreibtisch im Stand-by-Modus surrte, würde eine kurze Selbstmordnachricht auftauchen, sobald jemand die Tastatur berührte.
Als die Besatzung des Notarztwagens vom Erstversorgungsdienst in Helsinki das Zimmer 882 im »Vaakuna« betrat, waren neun Minuten vergangen, seit Jolanta Ziluite den Leichenfund an der Hotelrezeption gemeldet hatte. Für die Ärztin war das bedauerlicherweise ein vertrauter Anblick. Sie tastete nach dem Puls des leblos aussehenden Mannes.
»Aha, ziemlich eindeutig. Er atmet zwar, ist aber schlecht mit Sauerstoff versorgt. Wir intubieren, geben Sauerstoff und hängen ihn an den Tropf«, stellte die Ärztin lakonisch fest.
Der junge Krankenpfleger überprüfte, ob sich im Mund des Patienten noch Pillen befanden, und las dann die Etiketten der Dosen, die auf dem Boden lagen.
»Diazepam und Benzodiazepin. Geben wir Lanexat?«
»Wir schauen erstmal, wie er auf den Tropf und den Sauerstoff reagiert.«
»Was tippst du, schafft er es bis ins Krankenhaus?«, fragte der Pfleger.
»Kaum.«
***
Der Giebel auf der Seeseite der zweistöckigen Holzvilla von Generaldirektor a. D.
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