Schwarzbuch Wachtturmgesellschaft - der verborgene Januskopf (Will Cook und die Wachtturmgesellschaft) (German Edition)

nicht so positiv dargestellt, wie man meinen könnte. Ein Vollzeitprediger, also beispielsweise ein Pionier, nach Möglichkeit ein Sonderpionier, der den größten Teil seiner Zeit im Predigtdienst verbringt, gilt da schon eher etwas. Wie sich eine derartige Wertumpolung des Gewissens bei den Zeugen Jehovas 232 in der Praxis auswirken kann, wird an den beschriebenen Beispielen von Raymond Franz und Edward Dunlap deutlich.
    Ich kann es mir nur so erklären, dass das Gewissen der Verantwortlichen in ihrem Falle auf eine so massive Weise ausgeschaltet worden ist, dass keiner der entscheidenden Brüder etwas dabei fand, diese verdienten Mitbrüder und Vollzeitdiener im Rentenalter, ohne eine entsprechende Versorgung oder Entschädigung, buchstäblich über Nacht auf die Straße zu setzen und sie und ihre Frauen sich selbst zu überlassen.
    Die Wertumpolung, die die WTG betreibt, macht bei auch anderen moralischen und anderen Normen keineswegs halt. So werden beispielsweise die für die Gemeinschaft zu verrichtenden Tätigkeiten und Arbeiten nicht als Last, als Opfer, definiert, sondern sollen von den solchermaßen Belasteten als „unverdientes Vorrecht“ angesehen werden. Eine Rücknahme solcher Vorrechte gilt dementsprechend als Strafe. Er darf dann nicht mehr beten, nicht mehr als Mikrofonträger dienen, nicht mehr als Pionier im Vollzeitdienst stehen, usw.
    Ich denke noch an ein diesbezügliches Beispiel zurück, mit dem der damalige vorsitzführende Aufseher in einer südafrikanischen Versammlung mir diesen Punkt deutlich zu machen versuchte:
    „Einer meiner ersten Bibelstudien war ein Akademiker. Ein Doktor sogar. Er war dementsprechend intelligent und hat das Prinzip gleich begriffen. Zunächst musste bei ihm die Demut ausgeprägt werden. Und daher hat er über einen längeren Zeitraum nur ein Vorrecht gehabt. Er durfte die Fenster öffnen und schließen. Und das nur, wenn ihm das von dem zuständigen Ältesten so signalisiert wurde. Und, was soll ich Dir sagen, er hat dieses Vorrecht genossen und es über einen längeren Zeitraum treu und brav ausgeübt.“
    Damit wollte mir vermutlich aufzeigen, dass auch ich „in seiner Versammlung erst einmal nur kleine Brötchen zu backen hätte“. Ich habe ihn auch nicht danach gefragt, was aus diesem Akademiker später geworden ist oder ob er immer noch mit dem Öffnen und Schließen der Fenster beschäftigt wird.
    Man könnte dieses Beispiel durchaus von der humoristischen Seite betrachten, aber ist es ernst zu nehmen, weil es die Geisteshaltung in der Organisation treffend widerspiegelt. Alles, was durch die WTG im Sinne einer geistigen Neuorientierung und Disziplinierung – mag sie auf den ersten oberflächlichen Blick auch in mancher Hinsicht als gut erscheinen – vorgenommen wird, läuft im Endeffekt auf eine Indoktrination mit dem Ziel einer bedingungslosen Unterwerfung des Betreffenden hinaus. Mit dem Ziel, einen angepassten, unkritischen und unterwürfigen Mitläufer zu schaffen. Mit einer einheitlichen – natürlich vorgegebenen - Meinungsbildung.
    Schwarz und weiß – das ist die Devise. Ohne Zwischentöne und natürlich ohne Diskussion. Man ist immer einer Meinung. Und das ist die Meinung der Organisation, die man selbst nur überzeugend genug vertreten muss, um als guter Bruder anerkannt zu werden. Kann das biblisch sein und ist das gottgewollt? Gewollt von einem liebenden Gott, der uns mit Verstand und Beurteilungsvermögen ausgestattet hat? Mit einem Gefühl für Recht und Unrecht, für Gut und Böse. Der uns sein Gesetz sogar „ins Herz geschrieben hat?“ 233
    Nein, das das ist ganz sicher nicht der Fall. Diese Methode dient offenkundig nur dem einen Zweck, die geistige Macht und Kontrolle der WTG über ihre Schützlinge zu verstärken oder zumindest zu erhalten.
    Und das ist die eigentliche Gefahr für jeden, der sich den Zeugen Jehovas anschließen möchte. Er unterwirft sich, ohne dass ihm das in den ersten Jahren bewusstwerden muss – schließlich sind alle in der Versammlung sehr lieb miteinander – einer Macht, die schon mit Beginn seines Bibelstudiums ihre Fangarme über ihn ausgestreckt hat. Einer Macht, der sich ein getaufter Zeuge Jehovas später in einem Konfliktfall nicht mehr ungestraft widersetzen kann. Ausschluss, Verlust aller sozialen Kontakte und – bei hauptamtlichen Bediensteten – der Existenz, können unmittelbare Folge einer Kritik oder eines unliebsamen Verhaltens sein.
    Und dass diese Folgen im Ausschlussfall besonders