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Schwarze Schmetterlinge

Schwarze Schmetterlinge

Titel: Schwarze Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Jansson
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als er zunächst gedacht hatte. Auch wurde er nervös, wenn er daran dachte, dass er vielleicht Gertrud anrufen und ihr sagen sollte, dass er sich verspäten würde. Sie hatten immer noch nicht miteinander telefoniert. Da gab es ein Hindernis – sein Gehör war nicht mehr das, was es einmal war. Er fürchtete, Dinge falsch zu verstehen und so von Anfang an einen schlechten Eindruck zu machen. Er spürte einen Druck auf der Brust, nahm eine Tablette aus der Jackentasche und legte sie unter die Zunge. Und dann musste er pinkeln, obwohl er kurz zuvor im Bus noch auf der Toilette gewesen war. Nerven, das waren nur die Nerven. Aber im Alter von über achtzig Jahren sollte man solche Kinderkrankheiten eigentlich langsam abgelegt haben. Da sollte man gelernt haben, dass neunzig Prozent von dem, was man fürchtete, niemals eintraf, dass aber stattdessen andere und unerwartete Dinge geschahen, auf die man nicht vorbereitet war.
     
    Er sah sich nach einem passenden Gebüsch um. Die Not kennt kein Gesetz. Auf den Stock gestützt, lehnte er sich vor und ließ Wasser. Als er den Reißverschluss wieder hochziehen wollte, stieß er mit dem Fuß gegen etwas Weiches und Nachgiebiges. Stig verlor das Gleichgewicht und fiel, ohne sich festhalten zu können, ins Laub und blieb liegen. Die Goldkronen der Bäume, die hoch droben vor dem klarblauen Himmel schwankten, das Laub, das seinen Griff um die Äste der Bäume lockerte und sachte auf sein Gesicht niedersegelte, der Schmerz in der Brust, der harte Schlag des Herzens – das alles war so erstaunlich deutlich. Das Geräusch des Windes klang fast wie ein Trauergesang. Das Birkenlaub fiel wie große Goldmünzen zu Boden, ohne dass er einen Versuch unternahm, aufzustehen. Eine Goldmünze, um über den Styx fahren zu können, eine Goldmünze für den Fährmann, dachte er. War es jetzt an der Zeit?
     
    Er fühlte nach, ob er den Körper bewegen und die Beine heben konnte. Es schien nichts gebrochen zu sein. Auf einmal sah er die Hand, die weiße Menschenhand, die aus dem Müllsack unter dem Laubhaufen herausragte. Die mit Ringen verzierte Hand einer Frau. Er nahm die Brille ab und putzte sie mit seinem Taschentuch. Erst dachte er, es müsse ein Scherz sein, es handle sich um eine Schaufensterpuppe oder eine Art Attrappe. Die weißen Finger waren eiskalt und weich, als er sie berührte. Eine Menschenhand in einem schwarzen Müllsack. Für so etwas gibt es keine natürliche Ursache. Er kam zu dem Schluss, dass er die Polizei rufen musste.
     
    Ohne an sein Handy zu denken, stolperte Stig Julin, so schnell er es trotz Steinen und Wurzeln schaffte, zur Straße hinauf. Wenn er es schaffen würde, ein Auto anzuhalten, dann würde er sich zum Polizeirevier bringen lassen. Er würde als Zeuge bestellt werden. Da könnte er Gertrud aber was erzählen. Er würde fast ein Held werden und in die Zeitung kommen. Nein, solche Gedanken über seinen eigenen Ruhm durfte er nicht hegen, wenn der arme Mensch da hinten tot war. Weg damit. Das Herz schlug schwer in der Brust. Es tat bis in den linken Arm hinein weh. Weit entfernt war ein rotes Auto zu sehen. Es näherte sich mit hoher Geschwindigkeit. Wenn er es nur bis zur Straße schaffte, wenn er sich nur bemerkbar machen konnte. Stig Julin ließ den Stock fallen und versuchte, mit den Armen über dem Kopf zu winken, als er über den eingewachsenen Graben stieg. Der Schmerz in der Brust raubte ihm den Atem. Das Auto schien ein wenig langsamer zu werden, kam jetzt ganz nah und fuhr vorbei. Er sah es hinter der nächsten Ecke verschwinden. Der Druck auf der Brust ließ etwas nach, war aber immer noch da. »Pass auf dich auf, Papa. Wenn du Probleme mit dem Herzen hast, dann benutz das Handy. Du weißt doch jetzt, wie es funktioniert, oder? Ich habe es dir schon ein paar Mal gezeigt.« Er suchte danach in der Tasche. Die Schachtel mit gefüllten Pralinen für Gertrud war an der einen Ecke eingedrückt, sodass das Geschenkband abgerutscht war.
     
    Er nahm noch eine Tablette. Da war das Telefon. Ein großes und anständiges Modell, das er von seinem Enkel geerbt hatte, der sich schämte, mit so einem Uraltmodell in der Schule aufzukreuzen. Erst musste man den Knopf drücken, auf dem »No« stand, und dann die Notrufnummer. Wie war die noch? Richtig, 112, das war die Nummer. 112. Er wählte und wartete, aber nichts passierte.
     
    Der Schmerz in seinem Brustkorb wurde zu einem Krampf, der durch den ganzen Körper ging und die Kehle zusammenschnürte. Jetzt

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