Schwarzer Engel
legten.
Jillian, Tony und ich gingen zu einer verrückten Weihnachtsparty ins Haus einer ihrer Freunde. Es war das erste Mal, daß sie mich irgendwohin mitnahmen, aber irgendwie reichte es nicht aus, um mich an diesem Tag nicht doch schrecklich einsam zu fühlen. Ebenso ging’s mir den Rest der Woche bis Neujahr und die Woche danach, als ich wieder zur Schule mußte. Tony ging jeden Tag zum Arbeiten fort, und fast jede Nacht gingen er und Jillian gemeinsam aus. Untertags bekam man Jillian kaum zu Gesicht. Und wenn ich sie schon gelegentlich im Musikzimmer bei einem Solitaire-Spiel beobachtete, lud sie mich nicht mehr ein, mit ihr Karten zu spielen. Jillian hatte sich völlig von mir zurückgezogen, seit Tony an Thanksgiving öffentlich verkündet hatte, ich werde auf Dauer in Farthy wohnen. Für sie war ich ein Mitbewohner, aber kein Familienmitglied.
Offensichtlich paßte es Jillian, daß ich so beschäftigt war und wenig Zeit hatte, ihre Lebensweise zu teilen, die eine gesellschaftliche oder karitative Veranstaltung nach der anderen bedeutete. Und das ganze Zusammensein, von dem ich angenommen hatte, sie und ich würden es irgendwann mal teilen, schwand mit dem Bewußtsein, daß wir uns doch nie nahestehen würden. Sie machte keine Anstalten, mich zu mögen oder selbst etwas zu empfinden, damit sie mich später einmal nicht vermissen würde. Ach, leider kannte ich sie jetzt schon viel zu gut.
Sooft ich nur konnte, entwischte ich, um Troy zu besuchen –
was nicht häufig vorkam, denn ich hatte den Eindruck, Jillian wußte ziemlich genau, wo ich war, obwohl ich sie nicht sah.
Regelmäßig fuhr ich nach Boston in die Bibliothek oder in die Museen. Einige Male ging ich an der »Roten Feder« und an der B. U. vorbei in der Hoffnung, »zufällig« Logan zu begegnen, aber ich sah ihn kein einziges Mal. Vielleicht war er für die Ferien nach Winnerow gefahren – und das war der Punkt, an dem mir die Tränen kamen. Denn Logan hatte mir nicht einmal eine Weihnachtskarte geschickt und auch sonst niemand aus meiner Familie. Manchmal hatte ich den Eindruck, Farthinggale Manor wäre genauso arm dran wie die Willies – nur auf andere Art und Weise. Denn hier herrschte ein Mangel an Liebe, an Zuwendung, Interesse und an Freude.
Sogar in unserer verfallenen Hütte hatten wir diese Dinge gekannt. Hier war alles, was man gab, Geld, und so sehr ich mich danach gesehnt hatte, jetzt fing ich an, Liebe und Gefühle mehr zu vermissen.
Im Februar war mein achtzehnter Geburtstag, von dem Tony und Jillian noch immer annahmen, es sei mein siebzehnter.
Tony traf alle Vorbereitungen für eine Geburtstagsparty. »Lade alle diese eingebildeten Mädchen von Winterhaven ein, und wir werden sie total verblüffen.« Endlich hatten alle Mädchen von Winterhaven Gelegenheit, die Reichtümer von Farthinggale Manor zu bestaunen. Das verschwenderische Essen auf der Tafel raubte mir den Atem. Und die Geschenke, die ich in diesem Jahr erhielt, noch viel mehr. Sie hinterließen ein seltsames Schuldgefühl. Denn wie war wohl der Rest meiner Familie dran? Die erfolgreiche Party beeindruckte die albernen Mädchen so sehr, daß man endlich akzeptierte, ich sei für eine anständige Behandlung gut genug.
Anfang März tobte ein so wütender Sturm, daß ich am Montag, an dem ich nach Winterhaven zurückgefahren werden sollte, zu Hause eingeschlossen blieb. Tony und Jillian befanden sich außerhalb der Stadt, was mir eine perfekte Gelegenheit gab, den unterirdischen Tunnel zu benutzen, der Farthinggale Manor mit Troys Hütte verband. Außer Atem kam ich an, denn ich war den ganzen unheimlichen und düsteren Weg gerannt. Während ich die Kellertreppe hinaufstieg, machte ich ziemlich viel Lärm, um ihm mein Kommen anzukündigen. Wie immer war er beschäftigt, schien meinen Besuch aber trotzdem erwartet zu haben. Er hob den Kopf von seiner Arbeit, um in meine Richtung zu lächeln.
»Bin froh, daß du da bist. Du kannst ein Auge auf das Brot im Ofen haben, bis ich hiermit fertig bin.«
Später machten wir es uns vor dem Kaminfeuer bequem, und ich reichte ihm einen seiner eigenen Gedichtbände. »Bitte, lies mir was vor.« Er wollte nicht und versuchte, das Buch wegzulegen, aber ich bettelte weiter. Endlich gab er nach und las.
Ich hörte die Emotionen in seiner Stimme, hörte die Traurigkeit und war nahe daran zu weinen. Von Poesie hatte ich nicht viel Ahnung, aber er las auf eine wunderbare Weise.
Und das sagte ich ihm.
»Das ist das Problem mit all
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