Schwarzer Mond: Roman
Seite des Albums und betrachtete es fasziniert. Ihr starrer Blick und die Intensität ihres plötzlichen Interesses für den Mond erinnerten Jorja fatal an die unnatürliche Fixierung auf die >Kleine Frau Doktor<-Tasche.
So hat auch die verdammte Ärzte-Phobie begonnen, dachte Jorja beunruhigt. Ganz unschuldig und unauffällig. Hat Marcie einfach eine Phobie gegen eine andere eingetauscht?
Am liebsten wäre Jorja zum Telefon gerannt und hätte versucht, Dr. Coverly zu erreichen, obwohl er am Sonntag nicht praktizierte.
Aber noch während sie am Tisch stand und auf ihre Tochter hinabsah, kam Jorja zu der Schlussfolgerung, dass sie bestimmt übertrieben besorgt reagierte, dass Marcie bestimmt keine neue Phobie entwickelte. Schließlich fürchtete das Mädchen sich ja nicht vor dem Mond. Es war nur ... nun ja, merkwürdig fasziniert davon. Zweifellos eine vorübergehende Begeisterung. Alle Eltern aufgeweckter siebenjähriger Kinder kannten solche kurzlebigen Phasen glühenden Interesses für irgendeine Sache.
Trotzdem beschloss Jorja, Dr. Coverly davon zu berichten, wenn sie Marcie am Dienstag wieder in seine Praxis bringen würde.
Kurz nach Mitternacht am Montag schaute Jorja vor dem Zubettgehen in Marcies Zimmer hinein, um sich davon zu überzeugen, dass das Mädchen fest schlief. Es war nicht im Bett. Es hatte im dunklen Zimmer einen Stuhl ans Fenster gerückt, saß dort und starrte hinaus.
»Liebling, was ist passiert?«
»Nichts ist passiert. Schau doch nur mal«, sagte Marcie leise, verträumt.
Während sie auf ihre Tochter zuging, fragte Jorja: »Was ist denn da draußen so Interessantes zu sehen?«
»Der Mond«, antwortete Marcie, ohne ihren Blick von der silbernen Sichel hoch am schwarzen Himmelsgewölbe zu wenden.
»Der Mond!«
4. Boston, Massachusetts
Am Montag, dem 6. Januar, wehte vom Atlantik ein eiskalter scharfer Wind, unter dem ganz Boston zu leiden hatte. Dick vermummte Menschen eilten mit hochgezogenen Schultern und gesenkten Köpfen durch die Straßen. Im harten, grauen Winterlicht sahen die modernen Glasgebäude wie Eispaläste aus, während die älteren Bauwerke der historischen Stadt ihre sonstige Würde und Pracht völlig eingebüßt hatten und düster und heruntergekommen wirkten. In der letzten Nacht war Graupelregen gefallen. Die kahlen Bäume waren in eine funkelnde Eiskruste gehüllt; nur vereinzelte schwarze Äste ragten nackt empor.
Herbert, das Faktotum, das für Ordnung im Haushalt der Hannabys sorgte, fuhr Ginger Weiss zu ihrem siebten Besuch bei Pablo Jackson. Der Wind und der Eissturm der vergangenen Nacht hatten Stromleitungen abgerissen und mehr als die Hälfte der Ampeln lahmgelegt. Sie erreichten die Newbury Street schließlich um elf Uhr fünf, also mit fünfminütiger Verspätung.
Nach dem Durchbruch bei ihrer Samstagssitzung hatte Ginger die Absicht geäußert, die Leute vom Tranquility Motel in Nevada anzurufen und jenes geheimn isvolle Ereignis zur Sprache zu bringen, das dort am Abend des 6. Juli des vorletzten Jahres stattgefunden hatte. Die Besitzer dieses Motels mussten entweder Komplicen jener Personen sein, die Ginger einer Gehirnwäsche unterzogen hatten, oder aber Opfer wie sie selbst.
Und falls letzteres der Fall war, hatten sie vielleicht ebenfalls unter irgendwelchen Angstzuständen zu leiden.
Pablo hatte sich jedoch energisch gegen eine sofortige Kontaktaufnahme ausgesprochen, weil das seiner Meinung nach mit einem zu großen Risiko verbunden war. Falls die Motelbesitzer keine Opfer, sondern Komplicen der Täter seien, argumentierte er, könne Ginger sich durch einen Anruf in große Gefahr bringen.
»Sie müssen geduldig sein, und so viel Informationen wie nur irgend möglich haben, bevor Sie mit diesen Leuten Kontakt aufnehmen.«
Auch ihren Vorschlag, gemeinsam zur Polizei zu gehen, hatte Pablo abgelehnt. Er hatte sie davon überzeugt, dass die Polizei nicht interessiert an diesem Fall wäre, weil Ginger ja nicht beweisen könne, dass man sie einer Gehirnwäsche unterzogen habe. Außerdem könne die hiesige Polizei sich ohnehin nicht mit einem Verbrechen in einem anderen Bundesstaat befassen. Ginger müsste sich folglich entweder ans FBI oder an die Polizei in Nevada wenden, und in beiden Fällen würde sie möglicherweise genau jene Leute um Hilfe ersuchen, die für das verantwortlich waren, was man ihr angetan hatte.
Enttäuscht hatte Ginger zugeben müssen, dass Pablo recht hatte, dass sie vorläufig nichts anderes tun konnte, als sich
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