Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition)
nahmen den Expresszug nach Liverpool Street. Dank Stephanopoulos’ Dienstausweis bekamen wir Erste-Klasse-Fahrscheine, was auf der kurzen Strecke immerhin ein bisschen breitere Sitze und ein bisschen weniger Gesocks bedeutete. Stephanopoulos war eingeschlafen, noch ehe der Zug den Bahnhof verlassen hatte.
Im Zug gab es kein WLAN, also holte ich mir eine PD F-Datei von
Latein für Dummies
auf den Bildschirm und verbrachte die nächsten anderthalb Stunden damit, die dritte Deklination der Adjektive auf die Reihe zu kriegen. Als es noch zwanzig Minuten bis Liverpool Street waren und die Vororte als tröstlich verregnetes Einerlei hinter der Fensterscheibe vorbeizogen, rief Trollope mich an.
»Ich durfte jetzt ins Gartenhäuschen. Ich hatte recht. Die Tür war gewaltsam geöffnet worden.« Wie, war allen ein Rätsel – das Schloss samt dem Holz drumherum war einfach kreisförmig herausgelöst worden. »Keiner hier kann sich vorstellen, wie der das gemacht hat.«
Ich wusste es. Es war ein Zauberspruch. Tatsächlich hatte ich schon mit eigenen Augen gesehen, wie Nightingale damit ein Gartentor in Purley geöffnet hatte, als wir das Vampirversteck ausgehoben hatten. Entweder unser Schwarzmagier wurde unachtsam, oder er hatte keine Ahnung, dass es jemanden gab, der es mit ihm aufnehmen konnte, oder es war ihm schlichtweg egal, ob man auf ihn aufmerksam wurde.
Trollope beschrieb das Innere des Gartenhäuschens als das übliche Chaos aus Gartengeräten, Blumentöpfen, Schläuchen und Fahrradteilen. »Ich glaube nicht, dass wir je rauskriegen werden, ob etwas gestohlen wurde oder nicht.« Trotzdem suchte die Spurensicherung nach Fingerabdrücken. Was dabei herauskam, würde gemeinsam mit den Details über das Schloss und den beiden auf dem Rasen gefundenen Fußabdrücken der E P-Datei in HOLMES hinzugefügt werden. Ich dankte Trollope und versprach, ihn zu informieren, falls etwas Aufregendes passierte.
Stephanopoulos wachte mit einem kleinen Schnarcher auf, als wir gerade in den Bahnhof einfuhren, und ich fing einen winzigen verwirrten Blick von ihr auf, ehe sie sich wieder zurechtfand. Ich weihte sie in die Neuigkeiten mit dem Gartenhäuschen ein.
Sie nickte. »Sollten wir Ihren Boss hinzuziehen?«
Dr. Walid hatte sich unmissverständlich ausgedrückt. »Noch nicht. Schauen wir lieber erst, ob wir nicht was aus Alexander Smith herauskriegen, bevor wir ihn aus dem Bett holen.«
Der Zug kam zum Halten. »Ach ja, Smith. Ein Bösewicht der alten Schule. Wird sicher ein Genuss.«
Stephanopoulos beschloss, die Vernehmung in West End Central durchzuführen. Das Revier in der Savile Row ist ein großer quadratischer Büroblock aus den dreißiger Jahren, mit teurem Portland-Kalkstein verkleidet, damit man nicht gleich sieht, welche Einfallslosigkeit sich dahinter verbirgt. Mit Soho in unmittelbarer Nähe – gleich hinter der Regent Street – war es zum Hauptquartier der Sitte geworden, und Stephanopoulos überredete einen alten Freund von ihr, der dort arbeitete, Alexander Smith für uns herbeizuschaffen. Dahinter stand der Gedanke, ihm zu suggerieren, er sei nur ein kleiner Fisch, der in ein riesiges unpersönliches Mahlwerk für Fischmehl gespült worden war. Unsere Idealvorstellung war eine Mischung aus Kafka und Orwell – da sieht man mal wieder, wie gefährlich es ist, wenn deine Polizisten belesener sind als du. Wir ließen ihn über eine Stunde lang im Vernehmungsraum schmoren, tranken derweil in der Kantine eine Tasse von dem echt scheußlichen Kaffee des Hauses und legten uns unsere Vernehmungsstrategie zurecht. Also, eigentlichwar es Stephanopoulos, die zurechtlegte, während ich dasaß und das Ganze nach bewährter Methode für die Akten präparierte.
Alexander Smith hatte in den Siebzigern und Achtzigern tatsächlich im Ausland gelebt, und zwar in der Nähe von Marbella in Südspanien an der berüchtigten Costa del Crime – gemeinsam mit vielen anderen üblen Kerlen im mittleren Alter, die redeten wie die Fernsehgangster und die moralische Festigkeit von nassem Klopapier besaßen. Er war in der Tat ein Bösewicht der alten Schule, aber ein schlauer, denn er wurde nie verhaftet oder überhaupt strafrechtlich verfolgt. Seine Haupteinnahmequelle war früher nicht sein Club gewesen, sondern seine Tätigkeit als Mittelsmann zwischen korrupten Polizisten und den Pornobaronen von Soho. Er wusste buchstäblich, in welchen Kellern die Leichen versteckt waren und würde erwarten, dass dort unser
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