Schwarzer Schmetterling
diese Uhrzeit waren alle Mitarbeiter in den unteren Stockwerken beschäftigt. Diane selbst hätte sich eigentlich um einen ihrer Patienten kümmern oder in ihrem Büro aufhalten sollen, aber sie war vor einer Viertelstunde unauffällig heraufgekommen. Nachdem sie ihre Tür einen Spaltbreit geöffnet und nach dem leisesten Geräusch gelauscht hatte, war sie zu der Überzeugung gelangt, dass der Schlafsaal leer war.
Sie warf einen verstohlenen Blick nach beiden Seiten und zögerte nur ganz kurz, ehe sie die Klinke drückte. Lisa Ferney hatte die Tür ihres Zimmers nicht abgeschlossen. Diane sah darin ein ungünstiges Vorzeichen: Hätte die Pflegedienstleiterin irgendetwas zu verbergen, dann hätte sie ihre Tür mit Sicherheit abgeschlossen. Das kleine Zimmer, das genauso aussah wie ihres, lag im Halbdunkel. Hinter dem Fenster senkte sich die Dunkelheit über die Berge, deren Flanken schon wieder von einem Sturm heimgesucht wurden. Diane drückte auf den Schalter, und gedämpftes gelbes Licht durchflutete das Zimmer. Sicher wie ein routinierter Detektiv schob sie eine Hand unter die Matratze, öffnete den Wandschrank, den Nachttisch, sah unter das Bett und untersuchte das Arzneischränkchen im Bad. Es gab nicht viele mögliche Verstecke, und es dauerte nur zehn Minuten, ehe sie mit leeren Händen aus dem Zimmer kam.
26
» Sie können sie nicht vernehmen«, sagte d’Humières.
»Warum?«, fragte Servaz.
»Wir erwarten zwei Beamte vom Dezernat für interne Ermittlungen der Gendarmerie. Keine Vernehmung, solange sie nicht da sind. Wir dürfen uns keinen Fehler leisten. Die Vernehmung von Capitaine Ziegler findet in Anwesenheit ihrer Dienstvorgesetzten statt.«
»Ich will sie nicht vernehmen, ich will nur mit ihr reden!«
»Jetzt mal langsam, Martin … Ich habe nein gesagt. Wir warten.«
»Und wann werden sie hier sein?«
Cathy d’Humières sah auf die Uhr.
»Sie sollten in zwei Stunden hier sein. So ungefähr.«
»Man könnte meinen, dass unsere Lisa heute Abend ausgeht.«
Diane wandte sich zur Tür der Cafeteria um. Sie sah Lisa Ferney zur Theke gehen und einen Kaffee bestellen. Ihr fiel auf, dass die Pflegedienstleiterin keine Arbeitskleidung trug. Sie hatte ihren Kittel gegen einen weißen Mantel mit Pelzkragen, einen langen, blassrosa Pullover, eine Jeans und knielange Stiefel eingetauscht. Ihr Haar fiel frei auf ihren seidenweichen Pelz hinunter, und sie hatte bei Lidschatten, Wimperntusche, Gloss und Lippenstift ordentlich zugelangt.
»Weiß du, wohin sie geht?«, fragte sie.
Alex nickte langsam mit einem wissenden Lächeln. Die Pflegedienstleiterin würdigte sie nicht einmal eines Blickes. Sie trank ihren Kaffee und verschwand. Sie hörten, wie sich ihre Schritte in den Gängen eilig entfernten.
»Sie besucht ihren ›geheimnisumwitterten Mann‹«, sagte er.
Diane starrte ihn an. In diesem Moment wirkte er wie ein kleiner Dreikäsehoch, der seinem besten Freund sein größtes Geheimnis anvertraut.
»Was ist das denn für eine Geschichte?«
»Alle wissen, dass Lisa in Saint-Martin einen Geliebten hat. Aber niemand weiß, wer dieser Geliebte ist. Niemand hat ihn jemals mit ihr gesehen. Wenn sie so aufgedonnert ausgeht, kommt sie normalerweise erst am Morgen zurück. Einige haben sie deshalb schon aufgezogen und versucht, sie zum Reden zu bringen, aber sie hat ihnen jedes Mal einen Korb gegeben. Aber am merkwürdigsten ist, dass niemand sie je zusammen gesehen hat, weder in Saint-Martin noch anderswo.«
»Wahrscheinlich ist es ein verheirateter Mann.«
»Dann muss seine Frau nachts arbeiten.«
»Oder sie ist beruflich viel auf Reisen.«
»Oder aber es wäre etwas geradezu Ungeheuerliches.« Alex beugte sich über den Tisch und zog ein dämonisches Gesicht.
Diane bemühte sich, einen gleichgültigen Eindruck zu machen. Aber sie konnte einfach nicht ausblenden, was sie wusste, und die Spannung ließ sie nicht mehr los.
»Was zum Beispiel?«
»Vielleicht geht sie zu irgendwelchen Sexpartys … Oder aber sie ist die Mörderin, die von allen gesucht wird …«
In ihrem Magen wurde es eiskalt. Es fiel ihr immer schwerer, ihre Besorgnis zu verbergen. Ihr Herz schlug schneller:
Lisa Ferney verbringt die ganze Nacht außerhalb des Instituts …
Jetzt oder nie …
»Der weiße Mantel und der blassrosa Pullover sind nicht gerade praktisch, wenn man Menschen um die Ecke bringen will«, versuchte sie zu scherzen. »Die werden sehr schnell schmutzig, oder nicht? Und dann, sich so aufdonnern,
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