Schwarzer Schmetterling
blickte auf und fragte sich, wer wohl ohne anzuklopfen hier hereinschneite, und sie erwartete, Xavier oder Lisa Ferney vor sich zu sehen.
Niemand.
Ratlos verharrte ihr Blick auf der geschlossenen Tür. Im Zimmer hallten Schritte wider …
Aber das Zimmer war leer …
Das Licht, das durch das Mattglasfenster fiel, hatte einen bläulich grauen Farbton, und es beleuchtete nur die verblichene Tapete und einen metallenen Aktenschrank. Die Schritte brachen ab, und ein Stuhl wurde über den Boden gezogen. Weitere Schritte – diesmal Absätze von Frauenschuhen –, die ihrerseits aufhörten.
»Wie geht es den Insassen heute?«, fragte Xaviers Stimme.
Sie starrte die Wand an.
Das Büro des Psychiaters,
die Geräusche kamen aus dem Nebenzimmer. Dabei war die Zwischenwand sehr dick. Im Bruchteil einer Sekunde begriff sie. Ihre Augen richteten sich auf die Lüftungsöffnung hoch in der Wand, in einer Ecke unter der Decke: Von dort kamen die Geräusche herüber.
»Nervös«, antwortete Lisa Ferney. »Alle reden nur von dieser Sache mit dem Pferd. Das finden sie alle prickelnd, sozusagen.«
Das seltsame akustische Phänomen bewirkte, dass jedes Wort, jede Silbe, die die Pflegedienstleiterin aussprach, klar und deutlich zu hören war.
»Erhöht die Dosen, wenn es nötig ist«, sagte Xavier.
»Das habe ich schon getan.«
»Sehr gut.«
Sie konnte sogar die kleinste Nuance, die geringste Modulation wahrnehmen – auch wenn die Stimmen nur noch ein Murmeln waren. Sie fragte sich, ob Xavier das wusste. Vermutlich war es ihm nie aufgefallen. Vor ihr hatte niemand in diesem Zimmer gesessen, und Diane machte nicht viel Lärm. Vielleicht breiteten sich die Schallwellen auch nur in eine Richtung aus. Man hatte ihr ein kleines, staubiges Zimmer zugewiesen, das vier auf zwei Meter maß und vorher eine Abstellkammer gewesen war – in einer Ecke standen übereinandergestapelt die Archivkisten. Es roch nach Staub, aber auch noch nach etwas anderem – ein undefinierbarer, aber unangenehmer Geruch. Auch wenn man ihr in aller Eile einen Schreibtisch, einen Computer und einen Stuhl in das Zimmer gestellt hatte, änderte das nichts daran, dass sie das Gefühl hatte, in einer Müllkammer zu hocken.
»Was hältst du von der Neuen?«, fragte Elisabeth Ferney.
Diane richtete sich auf und spitzte die Ohren.
»Und du, was denkst du von ihr?«
»Ich weiß nicht recht, genau das ist das Problem. Glaubst du nicht, dass wegen dieses Pferdes die Polizei kommen wird?«
»Na und?«
»Sie werden überall herumschnüffeln. Hast du keine Angst?«
»Angst wovor?«, fragte Xavier.
Schweigen. Diane hob den Kopf in Richtung der Lüftungsöffnung.
»Weshalb sollte ich Angst haben? Ich habe nichts zu verbergen.«
Doch die Stimme des Psychiaters sagte, selbst durch den Lüftungsschacht hindurch, das Gegenteil. Diane fühlte sich plötzlich sehr unwohl. Gegen ihren Willen belauschte sie ein Gespräch, und es würde sie in die allergrößte Verlegenheit bringen, wenn man sie dabei erwischte. Sie nahm ihr Handy aus ihrem Kittel und schaltete es aus, so unwahrscheinlich es auch war, dass sie hier jemand anrief.
»An deiner Stelle würde ich dafür sorgen, dass sie möglichst wenig Einblick bekommen«, sagte Lisa Ferney. »Willst du ihnen Julian zeigen?«
»Nur wenn sie es verlangen.«
»In diesem Fall müsste ich ihm vielleicht einen kleinen Besuch abstatten.«
»Ja.«
Diane hörte Lisa Ferneys Kittel rascheln, als sie sich auf der anderen Seite der Mauer bewegte. Erneutes Schweigen.
»Hör auf«, sagte Xavier nach einer Sekunde, »nicht jetzt.«
»Du bist zu angespannt, ich könnte dir helfen.«
Die Stimme der Pflegedienstleiterin hörte sich verführerisch, zärtlich an.
»Oh, Gott, Lisa … wenn jemand kommt …«
»Du schmutziges kleines Schwein, mach schon!«
»Lisa, Lisa, bitte … nicht hier …
Oh, Gott, Lisa …
«
Diane spürte, wie ihre Wangen glühten. Wie lange schon waren Xavier und Lisa ein Paar? Der Psychiater war erst seit sechs Monaten an der Klinik. Dann musste sie daran denken,
dass sie selbst und Spitzner …
Dennoch schien ihr das, was sie hörte, nicht auf der gleichen Stufe zu stehen. Vielleicht hing es mit diesem Ort zusammen, mit den Trieben, dem Hass, den Psychosen, Wutanfällen und Manien, die wie eine abscheuliche Brühe vor sich hin köchelten – aber dieser Wortwechsel hatte etwas Krankes.
»Willst du, dass ich aufhöre?«, flüsterte Lisa Ferney auf der anderen Seite. »Sag es! Sag es, und ich
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