Schweig still, mein totes Herz (German Edition)
auf einen leeren Parkplatz des Vergnügungsparks
Ghost Town in the Sky
, um in Ruhe mit ihm zu sprechen.
»Du kommst uns also besuchen? Was für eine wunderbare Überraschung. Darf ich fragen, was dich dazu veranlasst? Ich ging davon aus, dass wir dich hier nie wiedersehen.« Als Caitlyn noch in Pennsylvania gelebt hatte, waren Onkel Jimmy und Tante Lacey ein paar Mal mit ihrem Cousin Bernie zu Besuch gekommen, aber Caitlyn und ihre Mutter waren nie zurück nach Evergreen gefahren. Jedenfalls nicht, solange Caitlyn noch klein war. Zu Laceys Beerdigung vor zehn Jahren war Jessalyn dann alleine gegangen. Caitlyn war nicht sicher, ob ihre Mutter davon abgesehen je den Weg von Charlotte nach Evergreen auf sich genommen hatte. Falls doch, hatte Jessalyn es zumindest nicht erwähnt.
»Ich versuche, ein vermisstes Mädchen aufzuspüren. Lena Hale.«
»Lena – meinst du Eli Hales Jüngste?« Missbilligung schwang in seiner Stimme mit. »Warum sollte sie hierherkommen?«
»Das weiß ich nicht, aber ihre Mitbewohnerin sagt, Lena sei auf dem Weg nach Evergreen gewesen, und jetzt ist sie verschwunden. Könntest du in euren Unterlagen nachsehen, ob sie im Resort gebucht hatte?«
»Schätze schon. Aber dadurch, dass das
VistaView
eine richtige Attraktion geworden ist, gibt es hier in der Gegend inzwischen jede Menge andere Hotels.«
Schwer vorstellbar, dass Evergreen mehr als ein Hotel brauchte, aber in sechsundzwanzig Jahren konnte sich schließlich vieles ändern.
»Danke, sehr nett von dir.«
»Gerne. Auf dich wartet ein frisch gemachtes Zimmer. Sag den Mädels am Empfang einfach, sie sollen mich anrufen, sobald du angekommen bist.«
»Bloß keine Um…«
»Unsinn. Du gehörst zur Familie. Und ich habe dich seit deinem Uniabschluss nicht mehr zu Gesicht bekommen. Bin schon gespannt, wie eine FBI -Spitzenagentin im echten Leben aussieht.« Er legte auf, ehe sie widersprechen konnte.
Caitlyn fädelte sich wieder auf den Highway ein, der von den Schatten der mächtigen Berge rundum verdunkelt wurde.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Lena kauerte in der hintersten Ecke ihres Gefängnisses. Zum ersten Mal, seit sie entführt worden war, erlaubte sie sich einen Moment der Schwäche. Sie weinte nicht bloß. Sie brach vollständig zusammen. Der Tiefpunkt war erreicht. Sie schluchzte und schrie und bettelte um Gnade, schaukelte mit angezogenen Beinen vor und zurück, die Arme fest um die Knie geschlungen, bis ihr Hinterkopf hart gegen die Wand schlug.
Wie hatte ihr Vater es bloß ertragen, fünfundzwanzig Jahre lang eingesperrt zu sein?
Noch immer war sie wütend auf ihn. Mehr noch allerdings auf sich selbst, weil sie an ihn geglaubt hatte. Denn schließlich hatte er nie gelogen, was seine Tat anging. Allein ihr blindes Vertrauen in ihn, das von ihrer Mutter und Vonnie auf sie übergegangen war, hatte sie an seine Unschuld glauben lassen.
Er war so ungeheuer aufgebracht gewesen, als sie ihm vor einigen Wochen einen Besuch abgestattet hatte, weil sie seinen Fall dem Innocence Project antragen wollte, das sich für die Aufklärung von Justizirrtümern einsetzte. So wütend hatte sie ihn noch nie vorher erlebt.
Er war vom Tisch aufgestanden, sodass jeder im Besucherraum ihn angestarrt hatte, und hatte sie angeschrien. »Lass es einfach ein für alle Mal gut sein«, hatte er gebrüllt und sein Gesicht war derartig rot angelaufen, dass sie schon befürchtet hatte, er würde gleich einen Herzinfarkt bekommen. »Ich habe den Mann umgebracht, Lena. Ich bin genau da, wo ich sein sollte. Ich bin schuldig, verdammt noch mal!«
Dann war er davonmarschiert und hatte sie sprachlos zurückgelassen.
Allein. So, wie sie sich schon ihr ganzes Leben lang fühlte, denn zu dem eingespielten Team, das aus ihrer Mutter und Vonnie bestand, hatte sie nie so recht dazugehört. Die beiden kamen immer gerade von einem Besuch bei Dad, besprachen den letzten Besuch, planten den nächsten. Als ob er irgendwie immer noch Teil der Familie wäre.
Jahrelang hatte Lena da mitgespielt. Immerhin war er der einzige Vater, den sie hatte, und dass er überhaupt eine Rolle in ihrem Leben spielte, war mehr, als viele der anderen Kinder, mit denen sie in Hayti aufwuchs, von sich sagen konnten. Die meisten ihrer Schulkameraden hatten überhaupt keinen Kontakt zu ihren Vätern oder wussten nicht einmal, wer ihr Erzeuger war. Zumindest gab Eli sich Mühe, seine Vaterrolle auszufüllen, zeigte sich stets interessiert, gab ihr Ratschläge, fragte nach Details und
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