Schweizer Ware
Zeit stand Baumer vor Kälte wieder auf und bewegte sich. Um sich vom Frieren abzulenken, sah er auf die großen schmiedeeisernen Gittertüren, die am Tag offen standen. Jetzt waren sie zu und fest verschlossen. Dahinter lag alles still, friedlich, unbefleckt.
*
Der Friedhof Hörnli war in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts gebaut worden und 1932 als Zentralfriedhof der Stadt Basel eingeweiht worden. Die Gottesacker in Basel waren überfüllt, und die neue Anlage war daher sogleich großzügig geplant worden. Die Grabreihen befanden sich auf mehreren terrassierten Stufen. Es gab für jeden Platz. Großzügig gestaltete Sektionen mit Familiengräbern wechselten sich mit Reihen von Einzelgräbern ab.
Ganz oben auf dem Hörnli, dem größten Gottesacker in der Schweiz, gab es schließlich eine freistehende Urnenwand mit halbtransparenten Verglasungen. Wenn das Licht durch diese Fenster hindurchschien, leuchtete die Wand als hinterleuchtetes Mosaik auf und erinnerte an die bunten Fasnachtslaternen am Basler Morgestraich. Noch weiter oben gab es weitere Wände mit Urnengräbern. Hier war alles ein wenig lieblos, billig. Beton bestimmte an dieser Stelle das Bild. Die allermeisten Gebinde waren hier verwelkt, ebenso vergessen wie die hier abgelegten Seelen.
Die unscheinbarsten Gräber lagen aber in der Hauptachse der Anlage. Es waren Rasenflächen, die als Gemeinschaftsgräber genutzt wurden. Hier bestattete man Menschen, deren Identität man nicht mehr kannte oder feststellen konnte. Selbstmörder etwa, die nackt und aufgedunsen am Kembser Wehr ohne Sinn und Zweck im Strudel rotierten und von denen keiner wusste. Deren Urnen wurden vom Friedhofsgärtner jeweils einfach irgendwo in aller Stille in diesem Feld vergraben. Keiner würde es später wissen, wo genau die Wasserleiche lag, wo die vereinsamte alte Kommunistin, wo der verarmte Handlanger. An den Seiten lagen allerlei Gebinde und Blumen, viele frisch und gepflegt, ja sogar Fotos von Verstorbenen und kleine Briefe wurden dort liegen gelassen. Es gibt für jeden Menschen doch immer irgendwo einen anderen, der sich erinnern und festhalten möchte, was schon längst vergangen ist.
Baumer kannte diesen Friedhof, seit seine Großeltern väterlicherseits hier in den siebziger Jahren begraben worden waren. Damals war er erst etwa 6 Jahre alt. Zu dieser Zeit bahrte man die Toten noch häufiger auf als heute, und selbst Kinder wurden an die Scheibe geführt, hinter der sie ausgestellt waren.
Baumer erinnerte sich an seinen Großvater, wie er hinter der großen Scheibe in einem schmalen Bett lag. Er trug ein Totenhemd aus weißer Baumwolle. Leuchtend weiße, mit gestärkten Spitzen verzierte Kissen fassten ihn ein. Für den kleinen Andi sah er aus wie eine Puppe. Sie war gleichmäßig hellrosa im starren Gesicht. Sein Vater nahm ihn zwischen die Beine und befahl: »Sag deinem Großvater Adieu!« Aber es war doch gar nicht sein Großvater, der da lag. Es war eine fremde Puppe. Wie konnte er einer Schaufensterpuppe, die mit einem lustigen Hemd von D’Artagnan, dem Musketier, angezogen war, Adieu sagen?
Die Beerdigung seiner Großmutter war ebenfalls in kleinen Erinnerungsfragmenten für immer in seinem Gedächtnis eingebrannt.
Fragment 1: Vater weint am offenen Grab.
Fragment 2: Vanilleglacé mit Schlagrahm im Restaurant Hörnli.
Bei späteren Beerdigungen, etwa wenn Leute aus dem Polizeikorps gestorben waren, nahm Baumer den Friedhof bewusster wahr. Er ging aus Anstand und nicht aus Interesse zu diesen Begräbnissen. Während man dem Sarg zu seinem Grab folgte, sprach er selten mit anderen Trauergästen, las lieber die Inschriften auf den Grabsteinen, an denen man vorbeizog: Beatrice Herzog. Stephanie Wartmann. Max Fritschi. Franz Müller. Fausto Melchiore. Die Namen waren ein Abbild der Basler Bevölkerung. Die Leute lagen eng beieinander, wie sie auch in den Basler Mietshäusern neben- und manchmal miteinander gelebt hatten. Neuerdings fand man hin und wieder auch einen Dejan Vujicic oder einen Benedikt M’Bango. Basel entwickelt sich und mit ihm das Hörnli. Muslimische Gräber gab es inzwischen auch, aber er hatte noch keine gesehen. Wahrscheinlich lagen sie ein wenig abgelegen. Separiert von allen anderen. Dort, wo der Staat die Erde metertief ausgegraben hatte, damit ein toter Muslim nicht in »entweihte« Erde zu liegen kommt. Es sind eben nicht alle gleich. Im Leben nicht und nicht im Tod.
Andi Baumer setzte sich wieder auf die Bank. Wie anders
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