Schweizer Ware
Streifenpolizist. Dann dachte er an den vierten im Bunde, den sie beim Grab beobachtet hatten. Er begann, sich suchend umzuschauen. Wo könnte sich der wohl versteckt haben?
*
Regazzoni hatte sich eine echte Chance zur Flucht erarbeitet. Er war von allen am weitesten gekommen und hatte sich einen uneinholbaren Vorsprung ersprintet. Jedoch war er dummerweise in seiner Angst einfach geradeaus gerannt. Jetzt stand er vor dem Maschendrahtzaun, der die Kohlistiegstraße entlanglief und der ihm den Weg auf die offene Straße versperrte. Wenn er dieses Hindernis überwinden könnte, dann käme alles gut.
Also kletterte er auf eine kleine Buche, die nahe am Zaun stand. Von einem hohen Ast hängend, hangelte er sich hin zu einem der Betonpfosten, die in wenigen Metern Abstand voneinander in den Boden gerammt waren und den Maschendraht hielten. An den oberen Enden der Pfosten entlang liefen drei Stränge Stacheldrahtzaun. Regazzoni schob sich vorsichtig hin zu einem Pfosten. Nur noch wenig und dann wäre er gerettet.
»Schön vorsichtig, schön vorsichtig«, murmelte er und versuchte mit seinem linken Fuß über den Draht zu kommen und auf der anderen Seite Halt zu finden. Mit seinem rechten Bally-Halbschuh, dessen flache Ledersohle von Dreck verschmiert war, behielt er Halt auf einem unteren Ast.
»Schön …«, nuschelte er gerade, als er das Gleichgewicht verlor und sein ausgestrecktes linkes Bein zwischen zwei Drähten wegrutschte. Er rotierte in der Luft mit schwingenden Armen und stürzte kopfüber hinunter. Die teure Hose – Regazzoni besaß nur Businessanzüge und er war einfach im Anzug zur Nachtschicht gekommen – verfing sich in den Drähten, die sich stramm um seine Beine zogen. Spitze Zacken bohrten sich in seine Waden, seine Oberschenkel, sein Knie und stoppten seinen Fall. So hing er mit dem Kopf nach unten, versuchte verzweifelt, sich mit seinen Händen irgendwie im Maschendraht festzukrallen. Natürlich schrie er sich das Leben aus dem Leib.
»Komm mit, Stefan«, rief der Ältere der Riehener Polizisten der Leuchtjacke im Gebüsch zu und rannte zu dem Schreienden hin, dem jüngeren Kollegen hinterher, der bereits losgespurtet war.
Stefan Heinzmann tat wie ihm befohlen und sprang den zwei Berufskollegen nach.
Sie fanden Regazzoni im Stacheldraht gefangen. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, den Doktor aus seiner misslichen Lage zu befreien. Sogleich brachten sie ihn ins Verwaltungsgebäude, wo bereits Danner und die Friedhofsangestellten waren.
Dort, am Haupteingang des Friedhofs, hatte die Gärtnerei ein ganz ordentlich ausgestattetes Krankenzimmer. Das war immer wieder mal im Gebrauch, wenn ein Gartenarbeiter eine Schnittverletzung erlitten hatte oder wenn ein betagter Friedhofsbesucher zusammengeklappt war und versorgt werden musste. Für solche Situationen hatte es in diesem Zimmer einen großzügig ausgestatteten Medikamentenschrank. Diese Einrichtung nutzte der Friedhofsgärtner nun, um die Wunden von Regazzoni zu desinfizieren und zu verbinden.
Zuerst schnitt der Gärtner die Hosenbeine des Verletzten entzwei. Sie waren von der Schaufelei ohnehin völlig verdreckt und zerschlissen und würden in den Müll wandern. Regazzoni sah nun aus wie eine Tunte, die sich als Marilyn Monroe im Abendkleid gab. Seine schlanken Beine traten aus den in Streifen geschnittenen anthrazitfarbenen Hosen keck hervor und suchten die Blicke der Männer. Nur die schwarzen Haare auf den unrasierten bleichen Waden und die feinen roten Fäden, die daran hinunterliefen, störten den Genuss des Anblicks.
Der Gärtner, der den Unglücklichen verarztete, hatte keine Ader für solche Feinheiten. Er sprayte eine beißende Desinfektionslösung auf jede Wunde im Bein seines Patienten und klebte dicke Wattepumps darauf. Der Mann konnte sich nicht daran erinnern, je so viel Verbandsmaterial verbraucht zu haben. Auch die Verletzungen an Regazzonis Händen wurden desinfiziert. Geschickt wickelte ihm der Gärtner einen Verband um beide Hände. Die notwendige Tetanus-Spritze würde ihm später ein Arzt geben müssen.
Danner hingegen bekam einen Schlingverband. Dieser erlaubte ihm, seinen Ellbogen in einem Dreiecktuch ruhig zu halten. Das reduzierte ein wenig seine Pein. Er bekam allerdings keine Medikamente. Später müsste er ins Spital zum Röntgen geführt werden und würde den Ärzten Auskunft über die Art seiner Schmerzen geben müssen. Deshalb durfte sein Empfinden nicht schon durch Schmerzmittel gedämpft worden sein.
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