Schwelbrand
wenn es so aussieht, als hätten wir heute einen Bauern geopfert … Unsere Dame haben wir im Hinterhalt. Dort lauert sie und schlägt im nächsten oder übernächsten Zug zu.«
Große Jäger brummte etwas Unverständliches. »Haben Sie den letzten Satz mitbekommen?«, wechselte er schließlich das Thema.
»Sicher. Da haben wir einen Ansatzpunkt. Den werden wir verfolgen«, sagte Lüder. In diesem Augenblick trat ein Mann aus dem Schatten einer Hauswand auf sie zu.
»Ich habe das eben verfolgt«, sagte er in leicht fehlerhaftem Deutsch. Unverkennbar gehörte er der gleichen Volksgruppe wie die anderen Männer an. »Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Im Namen vieler meiner Landsleute. Wir sind nicht so wie die. Wir wollen hier in Frieden leben und arbeiten. Niemanden stören, wenn wir unsere Religion ausüben. Mehr möchten wir nicht. Die da – das sind wenige.«
»Warum lassen Sie solche Leute als Sprachrohr auftreten? Die schaffen doch ein ganz falsches Bild«, sagte Lüder.
»Manches verstehen Sie nicht«, erwiderte der Mann mit dem schwarzen Schnauzbart. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er mochte sicher jenseits der vierzig sein. Das wettergegerbte Gesicht und die schwieligen Hände ließen vermuten, dass er einer harten körperlichen Arbeit nachging. »Viele von uns haben Angst, das zu sagen, was wir denken. Die wenigen haben die Macht.«
»Was ist das für eine Macht?«, fragte Lüder.
»Ich wollte mich nur entschuldigen«, sagte der Mann und verschwand wie ein Schatten.
Die beiden Beamten hatten den BMW erreicht und stiegen ein.
»Möchte ich das glauben?«, fragte Große Jäger mehr zu sich selbst gewandt. »Da gibt es eine Minderheit, die offenbar die anderen drangsaliert und sich als Sprachrohr auftut, sodass wir alle ein falsches Bild gewinnen?«
»Ich fürchte, die Zusammenhänge sind viel komplizierter, als wir vermuten«, sagte Lüder. »Das Problem ist, dass es eine in sich geschlossene Gesellschaft ist, die nur wenige Einblicke gewährt.«
»Und wenn es dort Kreise gibt, die aufbegehren? Die plötzlich mehr wollen, als geduldet zu sein? Das war doch kein Zufall, dass der Wortführer gesagt hat: ›Es reicht.‹«
»Das ist ein Ansatzpunkt für unsere Ermittlungen«, antwortete Lüder und hielt vor dem Grundstück mit dem älteren Einfamilienhaus in Kiel-Hassee. In der Einfahrt stand Margits VW Bulli, vor dem Haus parkte der Mercedes Kombi mit dem Steinburger Kennzeichen »IZ«. Lüder atmete tief durch. Seine Eltern waren noch zu Besuch.
***
Die Stadt Schleswig, die dem nördlichen Landesteil ihren Namen gab, war eine friedliche Kleinstadt am Ende der Schlei, eines Fjords und nicht eines Flusses, wie mancher irrtümlich behaupten mochte und vergeblich nach der Quelle der Schlei suchte.
Von Weitem markierten zwei Bauwerke das Stadtbild: der achteckige Wikingturm mit seinen siebenundzwanzig Etagen am Ende der Schlei und der Schleswiger Dom, den die Einheimischen selten mit seinem offiziellen Namen St.-Petri-Dom benannten. Die Bischofskirche galt als eines der bedeutendsten Baudenkmäler Schleswig-Holsteins. Die gotische Hallenkirche zog mit dem berühmten Brüggemann-Altar und der nicht minder bekannten Marcussen-Orgel zahlreiche Besucher von nah und fern an.
Schleswig war nicht nur der wichtigste Gerichtssitz des Landes, sondern beherbergte in seinen Mauern auch das barocke Schloss Gottorf, das früher einmal im Besitz der dänischen Könige war. Friedrich I. residierte auf Gottorf und verließ es nur selten, worauf er verspottet wurde als »das Huhn, das nur ungern sein Nest verließ«.
Das Schloss war heute Domizil der bedeutendsten Museen des Landes. Der Garten dahinter stand in seiner Pracht dem Schloss in nichts nach. Eingebettet zwischen Schloss, Fürstengarten und dem Waldgebiet Tiergarten lag die Stampfmühle, ein idyllisch gelegenes ehemaliges Waldhotel, das heute ein großes Restaurant mit Saalbetrieb beherbergte.
In den großzügigen Räumen mit der dunklen Einrichtung und den warmen Holztönen hatte sich Karl-Hermann Claussen mit ein paar politischen Freunden getroffen, darunter dem Kreispräsidenten, dem stellvertretenden Landrat und mehreren Abgeordneten aus Stadt- und Gemeinderäten.
Claussen hatte den Männern, Frauen waren in dieser Runde nicht vertreten, aufmerksam zugehört, ihre Anliegen, Vorschläge und Wünsche zur Kenntnis genommen und zugesichert, dass er sich um ihre Belange kümmern wollte.
»Karl-Hermann«, hatte ihn der Kreispräsident gemahnt,
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