Schwelbrand
»du bist unser Sprachrohr in Kiel. Auf dich kommt es an.«
»Ja, ja«, hatte Claussen geantwortet. Er war in der dritten Legislaturperiode Landtagsabgeordneter seiner Partei im Kieler Parlament. Er war ein fleißiger, aber unauffälliger Parteisoldat, jemand, der sich auf den hinteren Bänken des Landtags wohlfühlte. Auch nach zehn Jahren Zugehörigkeit zum Parlament waren sein Einfluss und seine Möglichkeiten der Mitgestaltung begrenzt.
Claussen war fast siebzig, und erneut würde er nicht kandidieren. Er wollte es ruhiger angehen lassen, sich vermehrt um seine Enkel kümmern, wie es viele Pensionäre zu sagen pflegten; besonders aber seine Frau, die an Parkinson litt, war der Grund, weshalb bei seinen Zukunftsplänen die Aussage »Dann möchten wir reisen« fehlte.
»Was hältst du eigentlich von dem Aufruhr, der im Augenblick über uns schwappt? Ist da was dran, dass die Dänen dahinterstecken?«, fragte Hagge, der im Gemeinderat von Havetoftloit saß.
»Tühnkram«, hatte der Kreispräsident für Claussen geantwortet. »Ich hab zwar auch keine Ahnung, was das Ganze soll, aber die Dänen … Wer sagt so was?«
»Hast du ’ne bessere Idee?«, wollte Hagge wissen und sah Claussen an. »Bist du nicht im Innenausschuss in Kiel?«
Claussen überlegte eine Weile. Dann schüttelte er den Kopf. »So was gibt’s doch nicht bei uns. Hirngespinste. Hier führt doch keiner Bürgerkrieg.«
»Hab ich auch nicht gesagt. Ich mein ja nur, weil die doch sauer sind. Wär ich auch, wenn die mir in Kiel das Geld unterm Hintern wegziehen würden.«
»Mensch, Hagge, es gibt keine Verschwörungstheorie«, sagte der Kreispräsident mit Nachdruck. »Schon gar nicht, was unsere dänischen Freunde betrifft. Du weißt doch, was deren Gönner gerade hier in Schleswig investiert hat. Eine solche Schule findest du kein zweites Mal im Land.«
»Eben.«
Der Kreispräsident sah auf die Uhr. »Tut mir leid, aber ich glaube, ich muss mich auf den Weg machen.« Er winkte den Kellner herbei. »Zahlen«, sagte er, und es klang so, als hätte er für die ganze Gruppe gesprochen.
Nachdem alle ihre Zeche beglichen hatten, brachen sie gemeinsam auf. Vor dem Ausgang bog Claussen noch einmal rechts ab.
»Wohin, Karl-Hermann?«, fragte Hagge, der den anderen Richtung Ausgang folgte.
»Ich muss noch einmal mein Alsterwasser wegbringen«, sagte Claussen und verschwand im Gang neben dem Tresen, der ihn zu den Sanitärräumen führte.
Als er ein paar Minuten später ebenfalls ins Freie trat, war von den anderen aus der Runde nichts mehr zu sehen. Es nieselte. Claussen zog den Kragen seiner Jacke hoch und den Kopf zwischen die Schulterblätter. Sofort hatte sich ein feuchter Film auf seine Brillengläser gelegt. Die Wassertropfen ließen die in der Senke vor der Stampfmühle gelegenen Neubauten mit den Seniorenwohnungen wie durch ein Kaleidoskop gleich mehrfach erscheinen.
Claussen wandte sich nach rechts Richtung Parkplatz. Dort, unter den Bäumen des angrenzenden Waldgebiets, hatte er seinen Mercedes Kombi geparkt.
Noch einmal ging ihm Hagges Frage durch den Kopf. Der Parteifreund war ein redlicher, wenn auch manchmal zu sehr in einfachen Strukturen denkender Mann. Und auch heute hatte er wieder mehr getrunken, als er hätte zu sich nehmen dürfen, wenn er sich noch ans Steuer setzte. »Voll wie Hagge« war ein geflügeltes Wort in ihrer Runde geworden.
Der Kies unter seinen Schritten knirschte, als er über den unbeleuchteten Platz ging. Von Weitem drückte er auf die Fernbedienung. Sofort ging die Innen- und die Fahrzeugbeleuchtung an, sodass er sich vor der wie drohend wirkenden Kulisse der Bäume orientieren konnte. Claussen wollte gerade zum Türöffner greifen, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Arglos drehte er sich um und sah den Mann in der dunklen Kapuzenjacke, dessen Gesicht im Dunkeln lag.
»Ja?«, fragt er arglos.
»Mitkommen«, befahl der Mann in akzentfreiem Deutsch.
»Was? Wieso?«
»Frag nicht so blöd. Los.«
»Ich denk gar nicht daran. Was soll das?«
Ehe Claussen sich versah, hatte ihm der Mann einen Faustschlag in den Leib versetzt. Claussen krümmte sich zusammen und kämpfte mit aufkommender Übelkeit. Mehrfach würgte er, bis er sich übergeben musste. Der Schwall schoss in Richtung seines Widersachers und erwischte den Mann, obwohl der nach hinten auszuweichen versuchte.
»Du alte Sau«, fluchte der Mann und trat nach Claussen. Zunächst erwischte er ihn im Unterleib. Als Claussen zusammensackte, folgte
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