Schwemmholz
hätten sie erklärt, es sei »66 mit Jagen«.
Einer der vier hielt nur mit Mühe seine Augen offen. Seit gestern hatte Axel Veihle auf seinen Freispruch getrunken. Außerdem hatte er keine Lust, zu Hause Sonjas dicken Bauch anzustieren.
Im Pot lagen schon mehrere Zwanzigmarkscheine. Einer der Spieler stieg aus, Veihle kaufte zwei Karten dazu, dann legte er einen Fünfziger in den Einsatz. Vor seinen Augen schwammen vier Damen in seiner Hand. Der Typ mit dem bandagierten Schädel winkte ab. Nun waren sie nur noch zu zweit: Veihle und Tanko, der ihm gegenübersaß. Tanko steckte in einer speckigen Lederweste. Darunter trug er kein Hemd, sondern war tätowiert. Er zog drei Fünfziger aus einer Brieftasche und fächerte sie auf, als seien sie etwas Besonderes. Veihle stierte durch den Zigarettenrauch und zwinkerte mit den Augen. Dann grinste er, griff in die Brusttasche seiner Lederjacke und zog zwei Hundertmarkscheine heraus. Der Wirt wurde aufmerksam und trat an den Tisch. Er hatte spärliche schmutzig-dunkle Haare und ein aufgeschwemmtes Gesicht.
In dem Atrium-Haus auf der Lindenhöhe saß Marie-Luise Welf vor dem Bett mit den Gitterstäben und erzählte Georgie, was er heute mit seiner Puppe Dodscha gespielt und wie schön Dodscha das gefunden hatte. Georgie hörte zu, und es schien ihr, dass er glücklich war. Dass ihr Mann nicht da war, störte die blasse Frau nicht. Jörg war meistens nicht da. An diesem Abend hatte er gesagt, er sei zu einem Arbeitsessen mit dem Fraktionsvorsitzenden Pfeiffle gebeten worden, dem Mann, ohne den nichts ging in dieser Stadt. Das mochte so sein oder auch nicht. Marie-Luise war es gleichgültig. Vermutlich war es gelogen, und Jörg schlief mit der dunkelhaarigen Assistentin.
Oder es war nicht gelogen, dann vögelte er sie eben nach dem Essen.
Bei einem Verbrechen ist das was die Welt das Verbrechen nennt selten das was die Strafe verdient, sondern da ist es, wo unter der langen Reihe von Handlungen womit es sich gleichsam als mit Wurzeln in unser Leben hinein erstreckt diejenige ist, die am meisten von unserm Willen dependierte, und die wir am allerleichtesten hätten nicht tun können .
Plötzlich war es Berndorf, als stiege ihm der Geruch von Kohleofen, Desinfektionsmitteln und filterlosen Reval-Zigaretten in die Nase. Am Nebentisch saß sein alter Kollege Misera aus der Polizeiwache Stuttgart-Heslach, mit gekrümmten Fingern über die Dienstschreibmaschine gebeugt, von der er hartnäckig behauptete, ihr sei die Komma-Taste abgebrochen. Dann verschwand die Erscheinung, Misera kehrte in das Grab zurück, in das ihn ein betrunkener Sportschütze befördert hatte, und Berndorf fand sich in seiner Wohnung wieder.
Die Handlung, die wir am allerleichtesten hätten nicht tun können. Kriminalisten denken anders. Platter. Cui bono? Wem nützt die Tat, wer hat den Gewinn davon? Dabei müssten wir doch wissen, dachte Berndorf, dass die meisten Täter Gefangene sind, verheddert im Wurzelwerk von Ursachen, Wirkung und Gegenwirkung. Wie die Schnittstelle finden, die unauffällige, winzige Abzweigung, die Verbrechen erst entstehen lässt?
So besonders gut bekam das Mineralwasser seinem Kopf doch nicht. Er stand auf, um sich einen Whisky einzuschenken. Hat Lichtenberg Recht, dachte er, dann sollten wir nicht so sehr nach vordergründigen Motiven suchen, nach einem vermeintlichen Nutzen. Sondern wir müssten das Wurzelwerk so weit zurückverfolgen, bis wir an jene eine Stelle kommen, für die es – so unauffällig sie auch scheinen mag – selbst keine Erklärung mehr gibt. Die die zweckfreie Niedertracht bloßlegt, das Böse, das aus sich heraus Unheil stiftet.
Berndorf nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Es
liegt nicht am Mineralwasser, und nicht am Whisky. Es liegt an meinem Kopf. Bye bye blackbird, spielte Miles Davis. Die großen schwarzen Vögel.
Fahl und flimmrig fiel das Licht der Neonlampen auf die fünf Männer, die um den einzig gedeckten Tisch in dem quadratischen Nebenzimmer des Vereinsheims saßen. Mit unterdrücktem Abscheu betrachtete Welf das tellergroße panierte Schnitzel und den Berg eingeweichter Pommesfrites, die eine schiefhüftige Bedienung ihm auf den Tisch gestellt hatte.
»Glaubet Sie mir«, versicherte Pfeiffle, »in ganz Ulm krieget Sie kein solches Schnitzel net wie hier.« Er hatte sich die Serviette in den Kragen gesteckt, rückte sich die Lesebrille auf der Nase zurecht und fing an, das Fleisch auf seinem Teller klein zu
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