Schwestern des Mondes 01 - Die Hexe-09.06.13
noch andere Leute auf der Plattform, wenn auch nur ein paar. Ich konnte sie nicht allein hier zurücklassen mit was auch immer ich da herbeigerufen hatte.
»O Scheiße!« Chases Aufschrei riss mich aus meinen Gedanken, und blinzelnd sah ich zu, wie aus der Wolke glitzernden Nebels die vollständige Gestalt einer Harpyie hervortrat, die einen zappelnden Sack trug. Der Dämon war über zwei Meter groß. Der untere Teil des Körpers, der in zwei klauenbewehrten Füßen endete, erinnerte vage an einen Vogel Strauß – braun und gelb gefiedert –, während der Oberkörper der einer Frau war. Flügel ragten aus ihrem Rücken hervor, ihre Brüste waren straff, doch das Gesicht war das eines verrunzelten alten Weibes. Mit glitzernden Augen musterte sie uns von oben bis unten.
»Mann, bist du vielleicht hässlich«, entfuhr es Chase, und er pfiff durch die Zähne.
Ich war so nervös, dass ich ein scharfes Lachen nicht unterdrücken konnte. »Halt doch die Klappe! Sie ist gefährlich.«
Ein paar Mädchen, die nahe genug gekommen waren, um zu sehen, was da los war, rannten kreischend davon. »Der verdammte Spruch hat funktioniert, aber statt uns zu der Harpyie zu führen, hat er die Harpyie zu uns gebracht«, brummte ich.
»Wie auch immer, sie sieht nicht erfreut aus. O Scheiße – pass auf!«
Chases Schrei rüttelte mich aus meinem Schockzustand. Das war auch gut so, denn die Harpyie entschied sich im selben Moment, mich anzugreifen. Ich duckte mich, und ihre Klauen zischten an mir vorbei. Ihre Fingernägel waren so lang wie kleine Küchenmesser – und ebenso scharf. Ich verspürte keinerlei Lust darauf, von ihr getätschelt zu werden. Rina war der nun nicht mehr lebende Beweis dafür, was dieser Dämon anrichten konnte.
Ich sog scharf die Luft ein und rief die Mondmutter an. Obwohl ich sie nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie da war, oberhalb der Schichten aus Wolken und Tageslicht, und ich fühlte ihre Energie widerhallen, als sie meinen Ruf beantwortete. »Herrin, lass mich jetzt nicht im Stich«, flüsterte ich und hob die Hände, um die Kugel aus schimmerndem Mondlicht einzufangen, die sich vor mir bildete.
»Greif an und zerstöre!«, schrie ich und befahl damit der Energie, den Feind zu attackieren.
Die schimmernde Kugel dehnte sich zu einer leuchtenden Klinge und stach auf die Harpyie ein. Die wich kreischend einen Schritt zurück, ließ mich aber nicht aus den Augen. In diesem Moment schob Chase sich von rechts an mir vorbei, und eine Explosion zerriss die Luft, die mich zu Tode erschreckte – er hatte einen Schuss abgefeuert.
»Verdammt, so verliere ich die Kontrolle über die Energie –«, rief ich, aber es war zu spät. Die Kugel aus Mondlicht gehorchte nun ihrem eigenen Willen und entschied offenbar, dass sie das haben wollte, was die Harpyie in diesem Sack mit sich trug. Die Energie schlug nach ihrem Arm, und die Harpyie ließ den Sack auf die Plattform fallen. Chases Kugel hatte dem Dämon natürlich rein gar nichts anhaben können.
Ich stieß ihn aus dem Weg und versuchte, das Mondlicht wieder unter Kontrolle zu bekommen, aber es gelang mir nicht. Ich hatte es verloren, und es würde einfach weiter tun, was es selbst für richtig hielt. Und offensichtlich wollte sich das Licht um den Sack legen und ihn schützen. Die Harpyie fauchte und kam wohl zu dem Schluss, dass sie den Kampf um den Sack verloren hatte. Also wandte sie sich wieder mir zu.
»Wir brauchen sie lebend, Chase.« Ich wich dem schimmernden Schild aus Mondlicht aus, konzentrierte mich auf die Harpyie und rief noch einmal die Mondmutter an. Licht fuhr an meinen Armen entlang in meine Hände, ich führte sie zusammen und zielte damit auf sie.
»Greif an und zerstöre!« Ein Strahl wie aus Quecksilber schoss aus meinen Händen auf die Harpyie zu, und diesmal traf er sie mit voller Wucht. Sie wurde in die Luft geschleudert und hing über dem Rand der Brüstung, während der Strahl sich weiterhin aus meinen Händen ergoss. Ich hatte sie nur fangen wollen, doch offensichtlich hatte ich ein bisschen zu viel Schwung in meinen Zauber gelegt, denn das Licht hüllte sie nun vollständig ein, und ihre Schwingen erschlafften. Mit einem langgezogenen Kreischen stürzte sie vom Himmel und schoss hilflos auf den Erdboden zu.
»O zur Hölle!« Ich rannte zur Brüstung und spähte hinab, und Chase folgte mir sofort. Die Harpyie war mit voller Wucht auf den Bürgersteig geknallt und nur noch ein großer, roter Fleck. Der Lärm hastiger
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