Schwimmen mit Elefanten - Roman
als mein Vater noch lebte, bin ich ständig herumgereist. Mit einem Koffer voller Zauberutensilien sind wir von Stadt zu Stadt gezogen. Vergnügungsparks, Gemeindehäuser, Zirkuszelte, Festivals. Überall dorthin, wo Menschen zusammenkommen. Kaum, dass die Leute über Vaters Zauberkunststücke staunten, zogen wir schon wieder weiter. Immer haben wir nach einem Ort gesucht, wo uns noch keiner kannte.«
»Ich kann mir das gar nicht vorstellen …«
»Das Gute am Reisen ist, dass viel Unerwartetes passiert. Erstaunliche Naturphänomene, exotische Speisen – so was in der Art. Als ich klein war, waren wir einmal auf dem Anwesen eines reichen Mannes zu Gast, der uns seine riesige Sammlung von Schachbrettern zeigte.«
»Eine Sammlung?«
»Ja. Der Mann wohnte in einer prunkvollen Villa direkt am Meer. Es gab auch eine Art von Nebengebäude, das in Wirklichkeit so groß war wie eine Turnhalle und bis obenhin vollgestopft mit Ausstellungstücken – ein Schachbrett neben dem anderen, es gab nichts anderes. Wenn man jeden Abend ein anderes Brett benutzen würde, bräuchte man Jahre, bis man auf allen gespielt hätte. Aus Elfenbein, aus Ebenholz, aus Kristall, aus Tierknochen, aus Ton – alle möglichen Materialien und Ausführungen gab es, manche waren so kostbar, dass man kaum wagte, sie anzufassen. Damals hatte ich natürlich noch keine Ahnung von Schach, aber eins war mir sofort klar: Es war alles nur Zierrat.«
»Wie recht du hast. Wie hübsch ein solch kostspieliges Schachbrett auch sein mag, es geht nichts über die Schönheit einer brillanten Notation.«
»Ja, am schönsten ist eine Figur, wenn sie sich auf den Feldern bewegt«, murmelte Miira, und er nickte.
Unvermittelt blieben beide an einer Bank mitten auf der Promenade stehen und setzten sich. Es war eine verlassene Bank wie die auf der Dachterrasse des Kaufhauses. Noch dazu war sie schmutzig und feucht. Aus dem Dickicht dahinter kam das leise Plätschern des Bachs.
»Deshalb wirkten die Schachbretter in dem Museum auch so abweisend. Nur eins fand ich so faszinierend, dass ich es mir lange angeschaut habe.«
Miira schwieg einen Augenblick und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Was denn für eins?« fragte der Junge und schaute dabei auf die dürren Krallen der Taube.
»Ein winziges Schachspiel«, flüsterte Miira leise. Sie hauchte die Worte wie einen Seufzer, als fürchtete sie, ihre Stimme könnte das zarte Objekt kaputt machen.
»Das Brett maß bloß drei Zentimeter auf jeder Seite. Es hätte bestimmt in eine Streichholzschachtel gepasst. Die Figuren waren aus Dattelkernen geschnitzt, der König war fünf Millimeter groß, die Bauern sogar nur zwei. An der Vitrine hing an einer Kordel eine Lupe, damit man das Brett anschauen konnte. Zum Spielen war es viel zu klein. Niemand könnte eine der Figuren setzen, ohne die anderen dabei zu berühren. Deshalb wirkte das Schachspiel auch ziemlich verloren, so wie es da stand. Seitdem sie das Licht der Welt erblickt haben, müssen sich die Figuren mit ihrem Schicksal abfinden, an Ort und Stelle zu verharren.«
Miiras Stimme drang genauso schwach an sein Ohr wie früher in seinem Alkoven. Er sah das Schachbrett deutlich vor sich. Zwar wusste er nicht, was eine Dattelpalme war, er konnte sich aber den Holzton des Schachbretts vorstellen und wie sich die Figuren anfühlten.
»Aber du, glaube ich, du könntest damit spielen«, sagte Miira. »Schließlich bist du der Kleine Aljechin.«
Er schaute zu Miira auf, war jedoch um eine Antwort verlegen.
Im Herzen eines fernen Museums gab es ein Schachspiel, das dem Trübsinn verfallen war, weil sich seine Figuren nicht von der Stelle rühren konnten. Eingesperrt hinter Glas und von Neugierigen durch eine Lupe angegafft. Angenommen, er wäre der Einzige, der mit diesen Figuren spielen könnte … Ob dieses Miniaturschachspiel womöglich auf ihn wartete?
»Es tut mir leid, ich hoffe, ich habe dich nicht beleidigt.« Miira riss ihn aus seinen Gedanken.
»Aber nein, überhaupt nicht.«
Er schüttelte hastig den Kopf.
»Du hast mich nicht beleidigt, ganz im Gegenteil, ich freue mich, dass du mir von diesem Schachspiel an einem fernen Ort erzählt hast. Keiner meiner Freunde hat viel von der Welt gesehen.«
»Ach wirklich?«
»Ja, einer wohnte in einem Bus, der nicht mehr in Betrieb war. Eine anderer auf dem Dach eines Kaufhauses, das er nie verlassen konnte. Und dann gibt es noch …« Der Junge zögerte einen Moment und presste die Lippen zusammen.
»…
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