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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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jemanden, der in einem engen Spalt gefangen war.«
    »Weshalb?«
    »Keiner von ihnen hatte eine Wahl, aber niemand hat mit seinem Los gehadert oder sich beklagt. Schweigend haben sie ihre missliche Lage akzeptiert, weil sie glaubten, es sei ihr Schicksal, und sie haben sich ihrer Umgebung angepasst.«
    »Wie du auch, oder?«
    Miira schob trockenes Laub mit ihren Schuhspitzen zu einem Haufen zusammen. Es roch nach feuchter Erde.
    »So in etwa«, erwiderte er.
    Der Schein der Straßenlaternen vermischte sich mit der Morgensonne und hüllte Miira in ein diffuses Licht. Bleiche Wangen, fast durchsichtige Ohren und die Lippen so glatt, als wären sie aus Kunststoff gegossen. Obwohl er es war, der künstliche Lippen besaß, wirkten die von Miira so betörend, dass man sich fragte, ob sie zu einem menschlichen Wesen gehörten. Feucht schimmernd, ebenmäßig, unversehrt. Wenn er sie nur berühren könnte. Ob sie vor Kälte ganz starr waren, nachdem sie es so lange in dem Mauerspalt ausgehalten hatte? Aber ihre Geschmeidigkeit hatten sie bestimmt nicht verloren. Seine Fingerspitzen würden wahrscheinlich zittern, weil er Angst hatte, sie zu zerbrechen.
    Der schwache Rest von Ultramarin über den Bäumen verfärbte sich mit der Morgenröte, die sich vom fernen Horizont her auszubreiten begann. Noch zwitscherten keine Vögel. Das Wohnheim lag hinter dem grünen Dickicht verborgen. Ihm kam es vor, als seien sie die einzigen Menschen auf der Welt.
    »In der Puppe ist es ja auch dunkel und eng«, sagte er mit gesenktem Blick. »Genauso eng wie für einen dicken Mann ein Bus oder eine Nische auf einem Kaufhausdach für einen Elefanten.«
    »Aber auf dem Schachbrett unternimmst du doch verwegene Reisen«, sagte Miira in ehrfurchtsvollem Ton.
    »Nein, nur unter dem Schachbrett.«
    »Ach ja, stimmt«, lächelte Miira. Er versuchte ebenfalls zu lächeln, aber dabei verzog sich nur die Narbe auf seinen Lippen, und seine Barthaare verhedderten sich ineinander.
    Plötzlich regte sich die Taube und trippelte nervös auf Miiras Schulter herum. Der Junge erlebte zum ersten Mal, dass sie etwas anderes bewegte als ihre Augen.
    Bis die Sonne am Himmel stand, saßen die beiden schweigend auf der Bank.
    Nachdem er Miira zum Wohnheim begleitet hatte, nahm der Junge den ersten Bus und fuhr nach Hause. Auf seinem Weg am Kanal entlang hallte jedes Wort, das sie gewechselt hatten, in seinem Gedächtnis nach. Genauso wie er sich die einzelnen Züge einer Schachpartie einprägen konnte, erinnerte er sich an alles, worüber sie gesprochen hatten. Inzwischen hatte sich der Dunst verzogen, und das Wasser glitzerte im Morgenlicht. Möwen flatterten von den Booten auf und segelten Richtung Meer.
    Wo mochte wohl die Taube schlafen? Vielleicht in einem Käfig, der neben dem Fenster stand? Oder in einem Karton, der mit einer Decke ausgelegt war? Nein, wahrscheinlich schläft sie bei Miira im Bett, das Gefieder ausgebreitet, die schwarzen Augen geschlossen, aber die beiden Füße immer noch an der Schulter des Mädchens festgekrallt. Das passt besser zu ihr. Bei diesem Gedanken wurde der Junge ganz neidisch auf den Vogel.
    »Da bist du ja endlich. Das Frühstück ist schon fertig. Iss dich ordentlich satt, und dann ruh dich aus«, rief seine Großmutter, als er das Haus betrat. Es duftete nach frisch gebackenem Brot und warmer Milch.

10
    Als der Junge an einem regnerischen Abend die schleppenden Schritte auf der Treppe hörte, befiel ihn eine böse Vorahnung. Der Mann, der den Klub am Grunde des Meeres betrat, zog das linke Bein nach. Er war so unheimlich, dass der Junge sich am liebsten versteckt hätte. Inständig hoffte er, der Mann möge eine der Kabinen betreten, in denen Blind- oder Simultanschach gespielt wurde. Woher diese Vorahnung kam, wusste er selbst nicht, denn normalerweise lernte er andere Schachspieler ja erst kennen, wenn er gegen sie antrat, um mit ihnen gemeinsam ein Kunstwerk zu schaffen.
    Aber diese Schritte hatten einen unheilvollen Klang. Sie ließen einem das Blut in den Adern gefrieren. Doch sosehr sich der Junge auch wünschte, sie mögen an seiner Tür vorübergehen, er konnte ihnen nicht entkommen. Wie eine Schachfigur, die zielstrebig auf das Feld zusteuert, auf dem der gegnerische König steht, um diesen matt zu setzen, stoppte das Schlurfen genau vor der ehemaligen Damendusche.
    Obwohl im Untergeschoss normalerweise kein Regen zu hören war, meinte der Junge ein prasselndes Geräusch wahrzunehmen, und ein eisiger Nachthauch zog

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