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Schwindel

Titel: Schwindel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristina Dunker
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ging es ihm schon viel besser.
    Nun aber schnell auspacken und unter die Dusche! Ich zog mich aus, öffnete den Rucksack, holte den Waschbeutel heraus und
     griff nach meinem Tagebuch. Natürlich braucht man kein Tagebuch, um zu duschen, aber in Momenten wie diesem braucht man es
     eben doch – um es sich mal kurz ans Herz zu drücken, um sich zu fühlen und sich zu zeigen, dass man sich liebt, um zu sehen,
     was man schon alles erlebt und aufgeschrieben hat, um schnell etwas hinzuschreiben, und sei es nur einen Satz: »Liebes Tagebuch,
     ich hatte einen furchtbaren Abend, aber ich lebe noch!«
    Ich griff ins Leere.
    Meine Augen weiteten sich.
    Bevor es mir bewusst wurde, schrie ich auch schon.
    Das Seitenfach war beinahe komplett herausgerissen. Von seinem ursprünglichen Inhalt – zwei Äpfeln, dem Tagebuch und dem Fülleretui
     – war nur das Etui geblieben. Es war in die Falte zwischen Ober- und Unterfach gerutscht, in der es sich festgeklemmt hatte.
     Das Tagebuch war mit den Äpfeln hinausgefallen: im Zug, im Bahnhof, im Wald, irgendwo.
    »Eva? Was ist passiert?« Julian stürmte die Treppe herauf.
    »Mein Tagebuch ist weg! Hier! Der Rucksack ist kaputt!«
    »Oh Mann! Deshalb machst du so ein Geschrei? Und ich denk, da ist ein Einbrecher, es brennt, du hast Schmerzen oder   …« Julian schüttelte den Kopf. »Tagebuch! Ist das so wichtig? Ich dachte, das ist was für kleine Mädchen.«
    »Mir ist es wichtig!«
    Mein Freund verdrehte die Augen. »Dann gehen wir eben morgen die Wegstrecke ab und gucken, ob wir’s finden. Wenn du’s nicht
     schon im Zug verloren hast.«
    »Im Zug hatte ich’s noch, glaub ich, weiß-weiß ich nicht, ich hab Angst, dass-dass   …« Mein Herz raste so, dass es wehtat. Sprechen wurde unmöglich.
    »Eva.« Julian hockte sich zu mir auf den Boden, nahm mich in die Arme. »Du bist ja ganz durcheinander. Jetzt dusch doch erst
     mal! Ich guck nach, ob ich das Buch finde, vielleicht liegt’s im Wohnzimmer oder auf der Terrasse.«
    Da lag es nicht, das hätte ich gesehen.
    »Bitte, Evchen«, bat er hilflos, »nicht schon wieder weinen. Was soll denn das für ein Wochenende werden, die Pizza wird doch
     auch kalt.«
    Jetzt nur keinen Heulkrampf kriegen. Gar nicht erst anfangen. Lässt man eine Träne zu, kommen immer mehr.
    Angestrengt nuschelte ich das Wort »Dusche« und tastete mich mit ausgestreckten Armen ins Bad. Erst alsich in der Kabine stand, mich matt an die Fliesen lehnte und das warme Wasser auf meinen Kopf prasseln ließ, konnte ich mir
     die Tränen erlauben.

8
    Mein Tagebuch war mein Trost gewesen, mein Rückzugsort, das Kopfkissen meiner Seele. Jedes Mal, wenn mir etwas Aufregendes
     passiert, wenn ich voller Liebesglück, Schreck, Scham oder Ärger war, und natürlich jedes Mal, wenn ich vom Fuchs kam, widmete
     ich mich zu Hause als Erstes meiner Kladde. In ihr waren nicht nur meine prickelnden Gefühle für Julian bis ins Detail beschrieben,
     in ihr hatte ich auch meine schlimmen Erlebnisse verarbeitet, die mir mehr als einfach nur »ein bisschen peinlich« waren.
     Mein Tagebuch spiegelte wider, wie schlecht es mir vor dem Umzug gegangen war, wie sehr mich die Mitschüler meiner vorigen
     Klasse in der Jugendherberge gequält hatten, unter welchen gemeinen Albträumen ich litt, wie oft ich es vor Angst morgens
     kaum geschafft hatte, in den Schulbus einzusteigen, wie ich mich immer mehr isolierte und glaubte, dass alle Menschen mir
     meine Schwäche und mein Ungenügendsein ansehen und sich kichernd, kopfschüttelnd oder peinlich berührt abwenden würden. In
     meinem Tagebuch stand, dass ich Tabletten gegen Schwindelanfälle nahm, und nicht zuletzt, dass ich einmal in der Woche zum
     Psychotherapeuten ging. Klar wusste ich, dass das kein Grund war, sich zu schämen. Man schämte sich ja auch nicht, wenn man
     Karies hatte undzum Zahnarzt ging. Mit dieser Argumentation hatten meine Eltern mich x-mal zu beruhigen versucht. Dennoch fanden sie es besser,
     dass die Verwandtschaft nichts davon wusste: Man brauche das ja nicht jedem auf die Nase zu binden. Daher hatte ich bisher
     niemandem außer Sarah und meiner Oma davon erzählt.
    Oma hatte meine Probleme sofort bagatellisiert. »Aber das hast du doch gar nicht nötig, Evi«, hatte sie voller Mitleid gesagt
     und ich war mir dadurch noch blöder vorgekommen, weil ich es eben doch nötig hatte.
    Auch mein Vater, der ja viel jünger war und mitten im Leben stand, kam damit nicht zurecht. Er drückte sich stets um

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