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Schwindel

Titel: Schwindel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristina Dunker
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verwildert, die fahr ich nicht bei Dunkelheit. Da kehren wir lieber um
     und nehmen die Forststraße.« Julian stieg wieder auf und ich setzte mich hinter ihn, ohne zu protestieren. Er hatte ja recht,
     wegen eines verlorenen Tagebuchs musste man keinen Unfall riskieren. Außerdem war ich froh und stolz, wie sehr er sich überhaupt
     zusammenriss und auf mich einging. Keinen Mucks machte er mehr wegen seines verletzten Fußes. Mein Wunsch war ihm quasi Befehl.
    Ich lehnte mich an ihn und genoss die Geschwindigkeit, als er über die Mühlbachbrücke die geschotterte, gut zwei Kilometer
     lange Zufahrt zur Landstraße und von dort die in einem weiten Bogen wieder zum Bach führende Forststraße entlangbretterte.
     Die Finsternis ängstigte mich jetzt nicht. Hier auf dem Sozius, nah an meinen Freund geschmiegt, konnte das Unheimliche ruhig
     seine langen, zweigdünnen Arme nach mir ausstrecken – ich war schneller, ich war schon weg, bevor es mich packen konnte. Beinahe
     breitete sich Gelassenheit in mir aus, ich hätte stundenlang fahren, schnellfahren können. Je mehr Abstand ich zwischen mich und die Mühle brachte, desto besser. Dabei wusste ich gar nicht, was genau
     ich gegen das Anwesen hatte: Außer der Tatsache, dass dort ein Vermieter wohnte, der jagte und den Julian nicht mochte, gab
     es keinen objektiven Grund.
    Erst als Julian die Enduro ins Tal hinab und auf das Regenhäuschen zulenkte, war meine Ruhe plötzlich verschwunden.
    Julian stoppte. Ich riss mir den Helm vom Kopf. Da sah ich im Scheinwerferlicht, dass das lang gestreckte, starre Etwas, das
     ich eine Sekunde lang für den Jungen gehalten hatte, ein liegender Baumstamm war, der gleiche, auf dem einer der Täter vor
     zwei Stunden gesessen hatte.
    Ich versuchte, die Szene nicht noch einmal vor meinem inneren Auge zu erleben, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren,
     ruhig und realistisch zu bleiben.
    »Hier war es?« Julian bemerkte meine Not nicht. »Auf jeden Fall ist der Typ weg. Hab ich dir doch gesagt, Evchen, da ist nichts
     passiert, das war nur ’n bisschen Gerangel und Geschubse.«
    Aber war der eine Jugendliche, der genau hier gesessen hatte, nicht aufgestanden und hatte den dicken Ast wie einen Schlagstock
     über dem Kopf geschwenkt? Hatte er damit zugeschlagen oder hatte er »nur« angetäuscht? In dem Moment hatte ich die Augen geschlossen!
     Hatte ich die Auseinandersetzung denn überhaupt richtig mitbekommen? Auf der Kreuzung lag kein Ast mehr, der wie ein Baseballschläger
     aussah. Ich hätte auchnicht die Kraft gehabt nachzusehen, ob vielleicht Blut daran klebte. Wozu auch? Nur um zu beweisen, dass ich recht mit meiner
     Einschätzung gehabt hatte, dass hier mehr passiert war? Ich brauchte meine ganze Kraft ja schon, um Julian nicht merken zu
     lassen, wie sehr ich schlotterte.
    »Dann wäre das wenigstens geklärt.« Julian schaltete die Taschenlampen ein, reichte mir eine. »Fehlt nur noch dein Tagebuch.«
    Wir gingen suchend hin und her, das heißt: Ich schwankte mit wackligen Knien zum Regenhäuschen und sah unter der Bank nach,
     Julian schritt trotz seiner Verletzung forsch die Forststraße ab, wollte die Sache wohl so schnell wie möglich hinter sich
     bringen. Was ja auch verständlich war, denn er hatte Schmerzen im Fuß.
Hatte er das?
Ich hielt inne und beobachtete ihn. Der Verband behinderte ihn natürlich, er ging ein wenig eirig und unausgewogen, aber wenn
     er Schmerzen im Fuß hatte, warum belastete er ihn dann unnötig, um einen Tannenzapfen zur Seite zu kicken?
    »Ist was? Hast du’s gefunden?« Julian hatte meinen Blick wohl gespürt und sich zu mir umgedreht.
    »Nein, leider nicht«, antwortete ich und registrierte erschrocken, dass er nun, als wäre er ertappt worden, wieder deutlich
     humpelnd auf mich zukam.
    »Dann hast du’s bestimmt schon im Zug verloren.« Er strich mir mit der Hand über den Arm, eine tröstlichannähernde und zugleich
     ungeheuer vorsichtige und distanzierte Bewegung. Es war keine Geste, die man macht, wenn man verliebt ist, und ich reagierte
     auch nicht wie eine Verliebte, griff nicht nach Julians Hand,die nun zwanzig Zentimeter von meiner entfernt zu Boden hing.
    »Tja, äh, was meinst du, sollen wir noch zum Bahnhof fahren und dort nachsehen?« Julian klang unsicher. Er bemerkte meine
     Abwehr; wahrscheinlich war ihm ähnlich unwohl zumute wie mir, hatte auch er das Gefühl, dass wir uns gerade voneinander entfernten,
     dass ein feiner Haarriss in unserer Liebe

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