Schwingen des Vergessens
Bild, das sie von Damian gezeichnet hatte. Es war zerknittert und an ein paar Stellen verwischt, weil sie es nicht trocknen gelassen hatte. Das Gesicht stach allerdings immer noch haarscharf hervor, der schwarze Hintergrund fiel beinahe nicht auf. Dass es eigentlich nur Konturen waren, ebenfalls nicht. Nachdenklich kratzte sie mit dem Fingernagel ein paar Striche in die schwarze Farbe, wo darunter das weiße Blatt wieder zum Vorschein kam. Angestrengt vermenschlichte sie seine Züge und konzentrierte sich diesmal genau auf sein Profil. Das letzte Mal war ihr die Zeichnung ohne wirkliches Zutun gelungen, so etwas geschah überaus selten, schon alleine wegen dem, da sie nicht wirklich viele nette Leute um sich herum hatte.
Als sie die Nase noch etwas ausgebessert hatte, schnappte sie sich einen Streifen Klebeband und befestigte das vollendete Blatt am Kasten, rechts neben ihrer Nische. Falls Caro herein kommen würde, wäre es beinahe unsichtbar, trotzdem konnte Amelie selbst es immer wieder betrachten, in Reichweite war es schließlich. Seufzend schloss sie die Augen und versuchte, die Ruhe zu genießen. Vor ein paar Tagen hatte es super geklappt, stundenlang war sie so in der Nische gesessen und hatte auf das Blubbern des Aquariums gehört. Nun schien es aber unmöglich. In ihr selbst tobte ein Krieg zwischen Neugier und Trauer, jedoch waren beide Seiten gleich stark und keiner wollte aufgeben. Verwirrt begann sie, jedoch nur auf niedriger Lautstärke, Keyboard zu spielen. Ihre Mutter war, außer ihren Trauergesängen, völlig unmusikalisch, von Steve brauchte man gar nicht erst reden. Er wusste weder, was ein Notenschlüssel war, noch, wie viele Viertel in einer halben Note Platz haben. Von wem ihr Talent kam, konnte deshalb keiner wissen, den größten Teil hatte sie sich allerdings selbst beigebracht. Aber was redete sie da eigentlich? Sofort fiel ihr wieder ein, dass die beiden ja gar nicht ihre echten Eltern waren und somit hatte sie logischerweise rein gar nichts von ihnen geerbt. Vielleicht war ihre echte Mutter ja sogar Opernsängerin oder Profiklavierspielerin. Möglich wäre es. Im Inneren kam es Amelie so vor, dass sie schon vor dem Erinnerungsverlust Keyboard gespielt hatte, ihr Können war ihr anscheinend als eines von den wenigen Dingen geblieben. Zwar konnte es natürlich auch sein, dass sie ein anderes Instrument erlernt hatte, doch daran glaubte sie nicht so recht. Das einzige, das sie magisch anzog, war das Keyboard. Keyboard konnte sie sich keines leisten und die elektronische Art war ohnehin um einiges praktischer. Die Tasten, die vorhanden waren, reichten ihr vollkommen, und ein Flügel hätte ohnehin nirgendwo Platz. Schnell verjagte sie die Gedanken und gab sich völlig der Musik hin. Im Grunde genommen folgte sie keinen Noten, die Lieder, die sie selbst erfunden hatte, waren nicht dokumentiert worden. Viel lieber spielte sie alles aus dem Gedächtnis, es aufzuschreiben würde nur das eigentliche Lied verändern.
In diesem Moment ertönte der vertraute Ton, der eine neue Nachricht einläutete, hoffentlich von Unknown. Nein, von Lucy.
„Hallo Wolfsmädchen, ich hab mich gefragt, warum du heute nicht in der Schule warst. Hast du etwa Angst gekriegt oder ist dir was super-wichtiges-Gruftie-mäßiges in den Sinn gekommen, was du noch schnell erledigen wolltest? Pech gehabt, wenn du geschwänzt hast, was ich glaube, wissen alle Lehrer bereits davon. Ich hab allen erzählt, du hättest keine Lust mehr auf Schule und die Tests willst du auch nicht nachschreiben. Hoffentlich ist das okay, ich mache mir eben Sorgen um dich. Ich würde dir raten, morgen nicht in die Schule zu kommen, verlass am besten nie wieder dein Haus. Zieh in eine andere Stadt, vermissen würde dich ohnehin keiner.“ Wut packte Amelie, wie konnte eine Tussi es wagen, so mit ihr zu reden? Das, was sie den Lehrern gesagt hatte, war ihr so gut wie egal, eine einzige Nachricht von ihrer Mutter würde das alles wieder ins Lot bringen. Zum ersten Mal begann sie, eine Nachricht für Lucyyy einzutippen.
„Liebe Lucyyy, es freut mich sehr, dass du so auf mich aufpasst, ich bin froh, dass ich eine Freundin wie dich gefunden habe. Aber echt jetzt, warum sagst genau DU mir, dass niemand mich vermissen würde? Mir kam es eher so vor, als würdest du von dir selbst reden. Ich kann mich jedenfalls noch erinnern, als du im Gefängnis gelandet bist, ein paar Sekunden war es leise in der Klasse, gleich darauf haben alle gelacht. Und weißt du
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