Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
vollständig bekleidet, die Treppe herunter.
»Was wollten die denn von dir?«
»Spenden sammeln für den Bullenball.«
»Ach nee. Giltst du als Tatverdächtiger oder was?«
»Sie haben meine Dienstwaffe mitgenommen.«
»Du hast doch ein Alibi, oder?«
»Ich war auf Streife. Habe niemanden gesehen, und niemand hat mich gesehen.«
»Jammerschade, dass ich nicht früher gekommen bin! Wenn du dein Blatt besser ausgespielt hättest, hätte ich dir ein tolles Alibi geben können.« Joan hob die rechte Hand und legte die linke auf eine imaginäre Bibel. »Mr King ist unschuldig, Euer Ehren, weil meine Wenigkeit zurzeit des besagten Mordes von besagtem Mr King auf dem Küchentisch gehörig durchgevögelt wurde.«
»Ich glaube, du träumst.«
»Davon hab ich geträumt, stimmt. Aber jetzt glaube ich, dass ich zu spät gekommen bin.«
»Joan, tu mir bloß einen einzigen Gefallen: Verlass mein Haus.«
Sie trat einen Schritt zurück und blickte ihn forschend an. »Du machst dir doch nicht etwa ernsthafte Sorgen, oder? Die ballistische Untersuchung wird nichts ergeben, und damit ist die Sache gegessen.«
»Meinst du?«
»Ich denke doch, dass du die Pistole auf deiner Streifenfahrt dabeihattest.«
»Natürlich. Meine Steinschleuder ist kaputt.«
»Wie witzig. Du hast schon immer blöde Witze gerissen, wenn du hochgradig nervös warst.«
»Ein Mann ist gestorben, Joan. Er lag tot in meinem Büro. Besonders komisch finde ich das nicht.«
»Ich kann mir schlecht vorstellen, dass die Tat mit deiner Pistole begangen wurde – es sei denn, du bist selber der Mörder.« Als er nicht antwortete, fuhr Joan fort: »Hast du der Polizei irgendwas verschwiegen?«
»Ich habe Jennings nicht umgebracht – falls du das denkst.«
»Denke ich gar nicht. Dazu kenne ich dich zu gut.«
»Na ja, die Menschen ändern sich. So was kommt vor.«
Sie nahm ihre Reisetasche auf. »Hättest du was dagegen, wenn ich noch mal vorbeikäme?«, fragte sie und fügte schnell hinzu: »Wenn ich schwören würde, so was nicht wieder zu tun.« Sie warf einen Blick auf die Bescherung in der Küche.
»Warum hast du das denn getan?«, fragte King.
»Vor acht Jahren habe ich etwas verloren, das mir sehr lieb und teuer war. Heute Morgen habe ich versucht, es mit einem Schlag wiederzubekommen – und zwar auf eine Art und Weise, die an Dummheit und Peinlichkeit kaum noch zu überbieten ist.«
»Und aus welchem Grund sollten wir uns wiedersehen?«
»Weil es da was gibt, das ich dich fragen wollte.«
»Dann raus mit der Sprache.«
»Nein, nein, diesmal nicht. Ein andermal. Ich melde mich.«
Nachdem Joan abgefahren war, räumte King in der Küche auf. Binnen weniger Minuten war alles wieder picobello. Nur allzu gern hätte er sein Leben ebenso schnell wieder in Ordnung gebracht. Allerdings hatte er das Gefühl, dass noch erheblich mehr zu Bruch gehen würde, bis diese Geschichte ausgestanden war.
KAPITEL 15
Mit einem Flugtaxi flog Michelle nach North Carolina. Da sie keinen Dienstausweis und keine Dienstmarke, sondern nur noch ihren Waffenschein vorlegen konnte, durfte sie ihre Pistole und das kleine Messer, das sie stets bei sich führte, nicht mit in die Kabine nehmen. Beide wurden aber im Laderaum mitgeführt und ihr nach der Landung wieder ausgehändigt. Die nach dem 11. September 2001 eingeführte Regel, sämtliche Waffen an Flughäfen zu konfiszieren, war inzwischen wieder etwas gelockert worden. Michelle nahm sich einen Mietwagen und fuhr in das kleine Städtchen Bowlington, das etwa achtzig Kilometer östlich der Grenze zu Tennessee im Schatten der Great Smoky Mountains lag. Die Fahrt dauerte ungefähr eine Stunde. Von dem Ort selber war, wie sie rasch feststellte, nicht mehr viel übrig. Die Textilindustrie, die diesen Landstrich einst wohlhabend gemacht hatte, war längst zusammengebrochen. Ein alter Mann an der Tankstelle erklärte Michelle, warum.
»Heutzutage wird das ganze Zeug für ’n Appel und ’n Ei in China oder Taiwan hergestellt, nicht mehr in den guten alten Vereinigten Staaten von A.«, klagte er. »Hier gibt’s nicht mehr viel.« Wie um seinem Kommentar Nachdruck zu verleihen, spuckte er einen Schwall Kautabak in ein Einweckglas. Er drehte an der alten Registrierkasse, bis es klingelte, gab Michelle das Wechselgeld für ihre Limonade heraus und fragte sie, was sie in diese Gegend führe. Doch Michelle legte sich nicht fest. »Bin nur auf der Durchreise«, sagte sie.
»Na ja, Ma’am, so viel zum Durchfahren gibt’s auch
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