SECHS
Licht entgegen. Sie kam sich vor wie ein Neugeborenes, das seinen ersten vorsichtigen Blick in die Welt macht. Und das war der Wahrheit näher, als ihr bewusst war.
Bleiern schwenkte sie den Kopf in die Richtung aus der Hand und Stimme gekommen waren. Doch alles, was sie erkennen konnte, war ein sich bewegender Schatten. Dann schwanden ihr die Sinne und sie tauchte erneut ins Dunkle ab.
Irgendwann kam sie zurück. Für sie war nicht mehr Zeit vergangen als zwischen zwei Szenen in einem Film. In Wahrheit aber waren es zwei Stunden gewesen. Mit benommenem Blick erkannte sie, dass der Schatten noch immer nicht verschwunden war. Nur bewegte er sich jetzt nicht mehr, sondern verharrte regungslos auf der Stelle.
Dass es sich dabei um ihre Schwester Corinna handelte, die über sie gewacht und auf dem Besucherstuhl eingeschlafen war, wusste Anna nicht.
Im nächsten Moment verschwammen alle Konturen wieder und der Schlaf holte sie zurück in tiefe Träume. In dunkle, in wilde Träume.
Anna sah gesichtslose Wesen, die von Zeit zu Zeit hinter weiß gekalkten Baumstümpfen auftauchten, die sie auf ihrem Weg durch die graue und trockene Einöde dieser daliesken Welt begleiteten.
Wie im Zeitraffer versank eine fahlgelbe Sonne am Horizont und tauchte genau dort wieder auf, wo sie gerade noch verschwunden war. Doch auch für den kurzen Moment, da die Sonne nicht schien, herrschte keineswegs Dunkelheit. Es war so hell wie zuvor. Und trotz des Lichts kannte dieser Ort keine Schatten. Gerade so, als sei alles aus Glas. Sie, die Wesen, die Baumstümpfe.
In der Ferne erblickte sie eine flimmernde Silhouette. Dass es sich um die Umrisse einer Frau handelte, konnte Anna erkennen, jedoch nicht, wer die Unbekannte war. Aber sie hörte ihre Stimme, und zwar so nah, als stünde sie direkt neben ihr. Und sie zischte ihr zu.
..ssst mir. Hörst du? In mir!
Dann erklang ein diabolisches Lachen.
Voller Wut und ohne zu wissen warum, rannte Anna auf die Silhouette zu. Doch egal wie sehr sie sich bemühte, sie kam ihr niemals näher. Anna spürte brennenden Sand unter ihren nackten Füßen. Das leichte Leinenkleid, das sie trug, flatterte bei keinem ihrer Schritte, sondern hing wie Drahtgewebe an ihr herunter. Dann stolperte sie und fiel der Länge nach in den flirrenden Sand.
Anna wachte auf.
Voller Panik schreckte sie hoch, schaute an ihrem Körper herunter und versuchte sich im nächsten Moment die Infusionsnadeln aus den Armen zu reißen. Jetzt kam der Schatten in Bewegung. Als Anna das bemerkte, verdoppelte sie ihre Anstrengungen.
„Anna! Was tust du? Hör auf!“
Das war die Stimme aus ihrem Traum. Und das irritierte und ängstigte Anna so sehr, dass sie tatsächlich innehielt. Dann schob sich ein Gesicht über das ihre. Annas Augen weiteten sich erst und verengten sich dann zu Schlitzen. Sie erkannte, wer da über ihr lehnte.
„Du Miststück ... du Hure!“, krächzte sie unter der Beatmungsmaske und versuchte ihre Schwester anzuspucken. Erfolglos - nicht nur wegen der Beatmungsmaske. Ihr Mund war so staubig und ausgemergelt wie die Traumwelt, aus der sie gerade gekommen war.
Corinna zuckte entsetzt zurück.
In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen. Zwei Schwestern, alarmiert über die feinen Drähtchen, eilten herein, schoben sie energisch zur Seite und drückten Annas tobenden Körper mit vereinten Kräften auf die Matratze. Wenig später war Anna ruhiggestellt.
Corinna hingegen stand noch immer zitternd, mit vor dem Mund verschränkten Händen da.
„Das passiert oft. Keine Sorge“, sagte die eine der beiden.
„Nach dem Aufwachen sind sie desorientiert und manches Mal halluzinieren sie auch.“
Corinna schüttelte den Kopf.
„Sie hat versucht mich anzuspucken und mich schrecklich beschimpft!“
„Kommt auch vor“, schaltete sich die andere ein, während sie die Decke wieder hochzog, die Anna weggestrampelt hatte.
*
Corinna überzeugte das nicht. Bei allem, was zwischen ihnen beiden vorgefallen war, Derartiges würde sich ihre Schwester niemals erlauben. Denn erstens waren sie noch immer Geschwister, und Corinna war sich sicher, dass sie das eng verband und zweitens waren sie viel zu gut erzogen. Und sowohl das Eine als auch das Andere bestimmte ihrer beider Wesen, war zu tief in ihnen verankert, als dass die beiden recht haben konnten!
*
Ihre Augen hielt sie geschlossen. Das Flittchen war noch da. Die Hure durfte nicht wissen, dass sie alles hörte. Alles! Das ganze Geschwätz!
-71-
Die Sache mit
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