Seefeuer
Seitdem lief sie mindestens
an jedem Wochenende, an Tagen wie heute besonders gerne. Die zu so früher
Stunde noch tief stehende Sonne in ihrem Rücken tauchte die Landschaft vor ihr
in ein geradezu magisches Licht. Ein wundervoller Tag, ganz besonders auf dem
Zieglerweg, der im Westen Überlingens hoch über dem See durch Felder und Wiesen
lief und einen weiten Blick über das Land und den See erlaubte. Direkt vor ihr
erkannte sie den nadelspitzen Kirchturm von Sipplingen. Der Ort glich einem
Spielzeugdorf, wie von einem Riesen hingestreut an das steile Nordufer des
Überlinger Sees. Rechter Hand lag auf einer Anhöhe Schloss Spetzgart,
eingebettet in frühherbstlich getuschte Wälder, während sich über dem linken
Ufer der gleichfalls bewaldete Bodanrück wie ein Riegel bis zur Insel Mainau
vorschob und weit dahinter die schneebedeckten Gipfel der Berner Alpen erahnen
ließ.
Karin Winter blies sich im Laufen die Haare aus der
Stirn, als ihr Handy klingelte. Unwillig hielt sie an, fischte das Gerät heraus
und meldete sich.
»Karin, wo bist du?« Sie erkannte Matuscheks Stimme.
»Zieglerweg. Was gibt’s?«, entgegnete sie kurz
angebunden. Gerade hatte sie eine etwas steilere Wegpassage zurückgelegt und
litt nun vorübergehend unter Atemnot.
»Aha! Hab ich dich beim Laufen erwischt. Gut so, dann
hast du bereits die richtige Betriebstemperatur«, witzelte Matuschek.
»Jörg«, unterbrach sie ihn, »das wird dir einigermaßen
neu sein, aber auch ich habe ein Recht auf Privatleben. Falls du es noch nicht
mitgekriegt hast: Heute ist Sonntag!«
Doch auf diesem Ohr war Matuschek taub. »Hör zu! Heute
früh hat mir ein Unbekannter ein Schreiben unter der Tür durchgeschoben. Ich
lese es kurz vor, dann kannst du immer noch entscheiden, wie du deinen freien
Sonntag verplempern willst, okay? Also:
An den ›Seekurier‹, das
Gewissen der Region!
Wenn Sie Ihre Aufgabe ernst nehmen
und Ihnen das Wohlergehen unschuldiger Jugendlicher etwas bedeutet, dann
sollten Sie sich für einen gewissen Herrn Dr. Hans-Gerd Weselowski, Leiter der
Bodan-Klinik, interessieren. Nach unseren Recherchen war er in der Nacht von
Donnerstag auf Freitag in eindeutiger Absicht mit einer 15-jährigen Schülerin
des Bodensee-Internats zusammen – wenige Stunden, bevor das Mädchen in einen
fremden Taucheranzug gesteckt und am Seeufer beim Spetzgarter Hafen abgelegt
wurde. Ein Zusammenhang mit dem von Ihnen bereits mehrfach ins Spiel gebrachten
›Rosaroten Ballett‹ liegt auf der Hand.
Mit der Bitte um Mithilfe
BÜRGERFORUM FÜR JUGENDSCHUTZ.«
Karin
Winter wusste nicht, ob sie lachen oder ernst bleiben sollte. »Moment mal … wie
war gleich der Absender?« Matuschek wiederholte den Namen. »Noch nie gehört«,
sagte sie bestimmt. »Ein anonymes Schreiben also. Wirf es weg.« Nach diesem Rat
bereitete sie sich aufs Weiterlaufen vor.
»Halt, bleib dran! Du hältst wirklich nichts davon?
Immerhin …«
»Jörg, so kenn ich dich nicht! Hast du nicht immer getönt: Hände weg von anonymen Anzeigen? Wir
kommen in Teufels Küche, wenn wir auch nur ein Wort
dieser abstrusen, durch nichts zu beweisenden Anschuldigungen veröffentlichen,
und das weißt du besser als ich.«
»Wer spricht denn von Veröffentlichung? Ich denke
nicht daran. Dann könnten wir unseren Laden gleich dichtmachen, bei der Lobby,
die Weselowski hat.«
»Du kennst den Mann persönlich?«
»Kennen wäre zu viel gesagt. Wir sind des Öfteren
zusammengetroffen, das bleibt nicht aus in einer Kleinstadt wie Überlingen.
Zumal eine seiner hervortretenden Charaktereigenschaften darin besteht, sich
bei allem und jedem in den Vordergrund zu spielen. Ach ja, einmal ist er sogar
wegen eines wohlwollenden Artikels über seine Klinik an mich herangetreten. Hat
mich dann fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, als er merkte, dass er bei
mir auf taube Ohren stieß.«
»Gut … was machen wir also?«
»Du hast das Stichwort eben selbst gegeben: Die
Anschuldigungen sind ›nicht beweisbar‹. Wer weiß, ob das so stimmt? Ich meine,
man müsste doch erst mal recherchieren, findest du nicht?«
»Du denkst dabei nicht zufällig an mich?«
»Wenn überhaupt jemand so eine Leiche ausgraben kann,
dann du! Irgendetwas an dem Brief klingt echt.«
»Deine Ahnungen in Ehren – aber wie stellst du dir das
konkret vor? Soll ich Weselowski mit den Anschuldigungen konfrontieren? Mich
unter die Schüler des Bodensee-Internats mischen und sie aushorchen? Oder den
Schulleiter
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