Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
flüstert: »Renate hat jetzt alles eingepackt, aber für euch ist noch genug zu essen da. Morgen früh um halb acht kommt Frau Blumer. Nicht erschrecken, das ist die Haushaltshilfe. Mach’s gut. Ich bin sicher, du kriegst das alles in Griff.«
»Ich
habe
alles im Griff!«, entgegne ich. Aber so ganz sicher bin ich da doch nicht.
Wenig später höre ich, wie die Haustür unten ins Schloss fällt, und dann bin ich wieder mit Papa allein. Er hat sich auf die Seite gedreht, die Bettdecke inzwischen bis zur Nasenspitze hochgezogen, so dass nur seine weißen Haare zu sehen sind, Haare, die immer noch so voll sind, dass ich neidisch werden könnte. Mein Blick geht zu dem Bild auf dem Nachttisch, und obwohl Mama schon so lange tot ist, überfällt mich immer noch eine unendlich große Trauer, wenn ich mich an sie erinnere. Wie lebensfroh sie auf diesem Foto strahlt! Und dabei hatte sie noch viel dünneres Haar als ich.
Ganz leise gehe ich zum Fenster, um den Rollladen herunterzulassen. Und staune nicht schlecht, als ich im Garten Wolfgang und Renate entdecke, im strömenden Regen, damit beschäftigt, die Zaunlatten zu befestigen. Hätte bestimmt noch ein paar Tage Zeit gehabt, denke ich, aber vermutlich soll es nur eine Demonstration sein, wie sehr die beiden sich um alles kümmern. Sicherlich wollen sie mir ein schlechtes Gewissen machen. Aber auf solche Mätzchen werde ich nicht hereinfallen, nehme ich mir vor, lasse leise den Rollladen herunter und gieße Wasser in das Glas auf dem Nachttisch, falls Papa nachts etwas trinken möchte. Ich will gerade auf Zehenspitzen das Zimmer verlassen, da schaue ich doch noch einmal zurück. Er scheint aufgewacht zu sein; ich bin mir fast sicher, dass er gerade die Augen geöffnet und mich beobachtet hat ... Oder hab ich mich doch getäuscht? Denn als ich an sein Bett trete, schläft er tief und fest. »Gute Nacht, Papa«, flüstere ich und gehe in mein Zimmer.
Seit wann hängt eigentlich das Lebkuchenherz am Spiegel?, überlege ich und fahre vorsichtig mit dem Zeigefinger über den weißen Zuckerguss, der zum Teil schon abgeplatzt ist.
Nur für dich
steht dort und ich schließe für einen Moment die Augen. Als wäre es gestern gewesen, erinnere ich mich an den Krämermarkt, Uli wollte mir unbedingt ein Herz mit der Aufschrift
Ich liebe dich
schenken, aber weil wir spät dran waren, beschränkte sich die Auswahl auf
Für meine Alte
und
Nur für dich
.
»
Nur für dich
bedeutet übersetzt nichts anderes als
Ich liebe dich
«, hatte Uli erklärt, als er mir das Herz umhängte.
Wie stolz und glücklich ich damals nach Hause ging, so überzeugt davon, dass nichts und niemand uns würde auseinanderbringen können. Ich schüttle den Kopf, mustere mich im Spiegel.
Alles schon so lange her, alles Vergangenheit.
Erschöpft lasse ich mich bäuchlings auf mein Bett fallen und lande hart. Was kein Wunder ist, wie ich feststelle, als ich nach einer Schrecksekunde die Nachttischlampe anknipse. Dort, wo sich bei anderen Menschen ein mehr oder weniger weiches Kopfkissen befindet, liegt bei mir
Meine Jugend
. Wütend schiebe ich das Album unters Bett, um es nach einer Weile doch wieder hervorzuholen. Merkwürdig, ich kann mich immer noch nicht daran erinnern, je
Meine Jugend
daraufgeschrieben zu haben. Was heißt überhaupt Jugend?, denke ich und greife nach dem Tiegel mit Handcreme auf dem Nachttisch. Man ist doch immer so alt, wie man sich fühlt. Was leider auch bedeutet, dass ich im Moment ziemlich alt bin.
Ich beschließe, meine philosophischen Überlegungen an dieser Stelle lieber abzubrechen, sie führen nicht weiter, und heute Abend ist sowieso der denkbar schlechteste Moment dafür (von Rudolf immer noch nichts gehört, geschweige denn gesehen). Stattdessen creme ich mir erst einmal gründlich die Hände ein mit dieser sagenhaften Anti-Aging-Handcreme und beschäftigte mich dabei mit der Frage: Ist das auf dem Album überhaupt meine Schrift? Ich halte es in eine entsprechende Entfernung, krame schließlich doch in meiner Handtasche herum, aber meine Lesebrille ist nirgends zu finden. Im Koffer zu suchen, bin ich viel zu müde – und außerdem ist es vielleicht gar nicht so günstig, wenn ich mir jetzt Fotos von früher anschaue. Ich bin mir nämlich sehr sicher, dass bestimmt auf jedem zweiten Uli zu sehen ist. An ihn will ich nun ganz bestimmt nicht erinnert werden, vor allem nicht vor dem Einschlafen.
Aber dann kann ich es mir doch nicht verkneifen, zumindest einmal ganz
Weitere Kostenlose Bücher