Seelen der Nacht
während des Tippens die Buchseiten offen halten konnte. Er kramte herum und kam schließlich mit einer Bronzemedaille mit dem Porträt Ludwig des Vierzehnten sowie einem kleinen Holzfuß an, der, wie er behauptete, von einem deutschen Engel stammte. Er wollte mir die beiden Gegenstände nicht ohne ein Pfand überlassen. Schließlich konnte ich ihn mit mehreren Küssen zufriedenstellen.
Aurora Consurgens war einer der schönsten Texte in der alchemistischen Tradition, eine Meditation über die weibliche Gestalt der Weisheit, in der gleichzeitig die chemische Aussöhnung von entgegengesetzten Naturkräften abgehandelt wurde. Der Text in Matthews Ausgabe unterschied sich kaum von dem in den Handschriften, die ich in Zürich, Glasgow und London studiert hatte. Umso deutlicher unterschieden sich die Illustrationen.
Die Künstlerin, Bourgot Le Noir, war eine wahre Meisterin ihrer Zunft gewesen. Jede Illustration war präzise und liebevoll ausgeführt. Aber ihr Talent beschränkte sich nicht auf technisches Können. Aus ihren weiblichen Figuren sprach eine ungeheure Empfindsamkeit. Bourgots Weisheitsfigur war kraftvoll, aber sie wirkte gleichzeitig weich. Auf der ersten Illustration, auf der die Weisheit die Verkörperungen der sieben Metalle unter ihrem Umhang beschirmte, zeigte ihre Miene einen kraftvollen, mütterlichen Stolz.
Es gab zwei Illustrationen – genau wie Matthew versprochen hatte –, die in keiner anderen bekannten Kopie der Aurora Consurgens enthalten waren. Beide gehörten zur letzten Parabel, die sich mit der chemischen Hochzeit von Gold und Silber beschäftigte. Die erste Illustration stand neben ein paar Sätzen zum weiblichen Prinzip in der alchemistischen Wandlung. Diese Figur, die oft als Königin in einem weißen Kleid voller Mondsymbole gezeigt wurde, um ihre Verbindung mit
dem Silber zu verdeutlichen, war von Bourgot in eine wunderschöne, aber auch angsteinflößende Kreatur mit silbernen Schlangen statt Haaren verwandelt worden, deren Gesicht im Schatten lag wie ein Mond während einer Mondfinsternis. Stumm las ich den dazugehörigen lateinischen Text und übersetzte ihn für mich: »Wendet euch mir zu von ganzem Herzen. Weist mich nicht ab, weil ich im Schatten bin und dunkel, denn das Feuer der Sonne hat mich verwandelt. Die Meere haben mich umschlungen. Die Erde wurde verdorben durch meine Werke. Die Nacht kam über die Erde, als ich in die morastige Tiefe sank, und meine Substanz wurde verborgen.«
Die Mondkönigin hielt einen Stern in der ausgestreckten Hand. »Aus den Tiefen des Wassers rief ich nach euch, und aus den Tiefen der Erde werde ich euch alle anrufen, die ihr vorübergeht«, las ich weiter. »Achtet auf mich. Seht mich an. Und wenn ihr einen findet, der mir gleicht, werde ich ihm den Morgenstern schenken.« Meine Lippen sprachen die Worte nach, und Bourgots Illustration erweckte den Text in der Miene der Mondkönigin zum Leben, wunderbar klar zeigte sie ihre Angst vor Zurückweisung und einen schüchternen Stolz.
Die zweite Illustration, die in keiner anderen Handschrift der Aurora Consurgens auftauchte, folgte auf der nächsten Seite und begleitete die Worte, die das männliche Prinzip, der goldene Sonnenkönig, sprach. Mir stellten sich förmlich die Nackenhaare auf, als ich Bourgots Darstellung eines schweren Steinsarkophags sah, dessen Deckel gerade so weit zur Seite geschoben worden war, dass man einen goldenen Leichnam darin erkennen konnte. Friedlich hatte der König die Augen geschlossen, und aus seiner Miene sprach Hoffnung, so als träumte er davon, aus seinem Gefängnis freizukommen. »Ich werde mich erheben und durch die Stadt wandern. In den Straßen werde ich eine reine Frau suchen, die ich heiraten kann«, las ich, »mit edlem Antlitz, noch edlerem Körper und in edelstem Gewand. Sie soll den Stein vor dem Eingang zu meinem Grab beiseiterollen und mir Flügel wie die einer Taube verleihen, sodass ich mit ihr in den Himmel fliegen und dort ewig und in Frieden leben kann.« Die Passage erinnerte mich an
Matthews Pilgerzeichen und den winzigen Lazarussarg. Ich griff nach der Bibel.
»Markus 16, Psalm 55 und Deuteronomium 32, Vers 40.« Matthews Stimme durchschnitt die Stille und ratterte die Referenzstellen herunter wie eine vollautomatische Bibelkonkordanz.
»Woher hast du gewusst, was ich gerade lese?« Ich drehte mich ein Stück zur Seite, um ihn besser sehen zu können.
»Du hast die Lippen bewegt«, erwiderte er, den Blick stur auf den Bildschirm
Weitere Kostenlose Bücher