Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Aldís die Mails an Róberta geschickt, ihr gedroht und ihre jahrzehntelang unterdrückte Wut an ihr ausgelassen hatte. Der alte Computer mit dem riesigen Röhrenbildschirm im Esszimmer stützte seine Theorie.
»Hast du ihr gedroht?«, fragte er.
Aldís schlang die Arme fester um sich.
»Sie konnte nicht begreifen, dass ich nicht mit ihr reden wollte. Ich hatte die Nase voll von ihren ständigen Anrufen hier zu Hause und bei der Arbeit. Ich bin mit meinen sechzig Jahren nicht unersetzlich und konkurriere mit den Einwanderern, die keine Ansprüche stellen. Niemand will eine alte Frau, die ständig telefoniert, als Mitarbeiterin. Ich habe noch sechs Jahre bis zur Rente, und man bekommt höchstens zwei Jahre Arbeitslosengeld. Du mit deiner tollen Ausbildung solltest dir die Differenz ausrechnen können. Man lebt schließlich nicht jahrelang von Luft.«
Aldís löste ihre Arme und weitete ihren Brustkorb.
»Ja, ich habe ihr ein paar Mails geschickt. Was hätte ich denn tun sollen?«, sagte sie dann.
»Ich weiß es nicht.« Óðinn rutschte auf seinem knarrenden Stuhl herum. Es musste lange her sein, seit ein Mann darauf gesessen hatte. »Ich bin nicht hier, um über die Vergangenheit zu urteilen, Aldís.«
Er hatte nicht über ihr Leben zu urteilen und wollte es auch nicht. Die Vergangenheit war nicht mehr wichtig, bis auf ein paar Details, die er wissen musste, damit Rún und er ein normales Leben führen konnten.
»Wenn Lilja dich töten wollte und den Lappen in den Auspuff gesteckt hat, dann wird sie angeklagt, aber ich würde mir trotzdem keine allzu großen Hoffnungen machen. Vielleicht war sie die Einzige, die wusste, dass du im Auto warten solltest, und nach all den Jahren reicht deine Aussage alleine nicht, damit die Staatsanwaltschaft aktiv wird. Zumal Eyjalín alles daransetzen wird, um sie davon zu überzeugen, dass du es warst. Ich bin zwar kein Anwalt, aber ich denke, sie werden sich die möglichen Motive genau anschauen. Es läuft ja niemand durch die Gegend und bringt einfach so Leute um. Wenn die Frau keinen triftigen Grund hatte, dich zu töten, wird dir niemand zuhören.«
»Glaubst du nicht, dass ich mir darüber Gedanken gemacht habe?«, fragte Aldís.
Dann erzählte sie ihm von dem missgestalteten Kind, das Veigar aus dem Bett seiner Frau genommen und unter einem Baum vergraben hatte. Sie berichtete ihm haarklein, wie ihr Veigar und Lilja gegenüber rausgerutscht war, dass sie vom Schicksal des Babys wusste, und von Liljas Reaktion, die darauf schließen ließ, dass sie die ganze Geschichte erst aus Aldís’ Mund erfahren hatte. Lilja war zusammengebrochen, als ihr klargeworden war, dass das Kind lebendig gewesen war und ihr Mann es getötet hatte.
Liljas Verzweiflung hatte sich daraufhin gegen Aldís gerichtet, die sie für eine Hure hielt. Wenn alles zerstört ist, bringt man nicht selten den Überbringer der schlechten Nachricht um.
»Ich habe auf dem Weg nach Norden im Bus und an jedem einzelnen Abend in den darauffolgenden Jahren darüber nachgedacht. Ich hatte kein sehr aufregendes Leben, alleine mit Lára bei meiner Mutter. Vielleicht hätte ich es sonst irgendwann vergessen. Aber als Róberta auftauchte, hatte ich wirklich lange nicht mehr daran gedacht.«
Aldís nahm ein Kissen in den Arm und streichelte es wie eine Katze. Sie wirkte plötzlich ganz leer, wie ein Verteidiger, der alles aufgezählt hat, was auf die Unschuld seines Angeklagten hinweist, aber merkt, dass es nicht reicht.
»Ich bin nicht hier, um darüber zu sprechen, Aldís«, sagte Óðinn und warf einen Blick auf das Kissen. Aldís legte es beiseite. »Ich muss mit dir über dein Verhältnis zu Lára reden. Und zu Rún.«
»Ich glaube, das solltest du lieber nicht tun«, entgegnete sie. Ihre Wangen röteten sich vor Wut, und plötzlich konnte sich Óðinn vorstellen, wie sie als junge Frau ausgesehen hatte. Hübsch, aber nicht zu schön; genau das, was die meisten Männer attraktiv fanden.
»Was meinst du damit?«, fragte er, erschöpft angesichts ihrer nicht enden wollenden Streitigkeiten.
»Ich weiß genau, was auf dem Spiel steht. Jetzt wirst du mir etwas an den Kopf werfen, das du dir nicht erlauben kannst«, schnaubte sie. »Ich habe Lára großgezogen, damit sie nicht so leben muss wie ich und meine Mutter. Du kannst dir vorstellen, wie betroffen ich war, als du sie verlassen hast und die Geschichte sich wiederholt hat, trotz all meiner Bemühungen, das zu verhindern.«
Sie schaute Óðinn so
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