Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Óðinns. Es sah so aus, als sei die Farbe ihrer Pupillen im Alter mit dem Weißen zusammengeflossen.
»Das ist doch am wahrscheinlichsten, oder? Es werden sich ja wohl keine Obdachlosen hier eingenistet haben. Wir sind doch viel zu weit ab vom Schuss, und zu klauen gibt es hier auch nichts«, fügte sie hinzu.
»Das würde mich jedenfalls sehr wundern«, sagte Óðinn und zwang sich zu lächeln. »Ich rufe Baldur nachher mal an und frage ihn. Er hat bestimmt nur vergessen, uns zu informieren.«
Rún machte einen Satz, der fast schiefgegangen wäre, und stolperte durch die Tür. Sie sagte nichts, klopfte sich nur den Schnee von den Schultern und schüttelte ihre Haare aus. Dann stapfte sie mit den Füßen auf, woraufhin sich eine kleine Pfütze auf dem Boden bildete.
»Das war knapp.« Die alte Dame lächelte Rún an, die jedoch nicht aufschaute. »Hast du keine Winterschuhe, Liebes? Sind die nicht ein bisschen zu glatt?«
Diese Frage motivierte Rún auch nicht, sich an dem Gespräch zu beteiligen, und Óðinn schaltete sich ein.
»Wer schön sein will, muss leiden«, bemerkte er. Als er die Tüten der alten Frau hochheben wollte, stellte er fest, dass sie gar nicht so schwer waren, wie sie draußen bei ihrem Kampf mit dem Wind gewirkt hatten. »Ich trage die Tüten für Sie rauf.«
Ihre Einladung, auf einen Schluck Kaffee hereinzukommen, lehnte er dankend ab mit der Entschuldigung, er sei müde nach einem langen Tag.
»Geben Sie mir Bescheid, was Ihr Bruder gesagt hat?«, fragte die Frau noch mit besorgter Stimme, bevor sie sich verabschiedeten.
»Ja, das mache ich«, antwortete Óðinn.
»Sonst muss ich vielleicht, wenn das so weitergeht, die Polizei anrufen. Es ist sehr unangenehm, alleine im Haus zu sein, wenn Fremde darin herumlaufen.«
Auf dem Weg nach oben wollte Rún wissen, wovon die Frau gesprochen habe. Óðinn spielte die Sache herunter und wollte nicht zugeben, dass die Worte ihrer einzigen Nachbarin ihn beunruhigt hatten.
»Ach, heute waren wohl Handwerker im Haus, wahrscheinlich um die anderen Wohnungen fertigzustellen. Der Lärm stört sie ein bisschen.«
»Meint sie, die würden hämmern?« Rún war wie üblich ein paar Stufen vor ihm. »Ich habe kein Hämmern gehört.«
»Sie sind wohl durch den Hausflur gestapft und die Treppe rauf- und runtergelaufen. Das wirst du kaum bemerkt haben, du warst ja nicht zu Hause.«
»Vielleicht höre ich es morgen.«
»Morgen?«
Óðinn wünschte sich, Rún würde aufhören zu reden, solange sie die Treppe hinaufstiegen. Er war kurzatmig, weil er in den letzten Monaten nur am Schreibtisch gesessen hatte, und obwohl er nicht zugenommen hatte, kam er nicht mehr so schnell die Treppe hinauf.
»In der Schule ist Lehrersprechtag.« Rún verlangsamte ihren Schritt und schaute zu ihm hinunter. »Weißt du nicht mehr? Ich hab dir doch letzte Woche den Zettel gegeben.«
»Ja, doch, doch, das hatte ich nur vergessen«, entgegnete er und erinnerte sich, den Zettel ungelesen weggelegt zu haben. »Mist, dann wären wir besser noch einkaufen gegangen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir für morgen genug zu essen im Haus haben. Vielleicht arbeite ich dann nur den halben Tag und bringe was zum Mittagessen mit, was hältst du davon?«
»Ja, okay.«
Óðinn konnte nicht einschätzen, ob ihr der Vorschlag gefiel – vielleicht hatte sie sich ja darauf gefreut, alleine zu Hause zu sein. Er hätte in ihrem Alter jedenfalls lieber seine Ruhe gehabt, als ständig mit seinem Vater etwas zu unternehmen.
»Sag mir einfach Bescheid. Wir machen das, was dir lieber ist. Wie immer«, sagte er wahrheitsgemäß.
Rún schnaubte verächtlich, als sie die letzten Treppenstufen hinaufsprang, und Óðinn fragte sie nicht, wie er das verstehen sollte. Ihre Mutter hätte es bestimmt gewusst, und er vermied es tunlichst, mit ihr verglichen zu werden – es war klar, was dabei herauskäme. Auf dem Treppenabsatz angelangt, schnaufte Rún noch nicht mal und schien auch keine Gedanken an das Angebot ihres Vaters zu verschwenden. Sie zog ihre Jacke aus, ließ sie auf dem Fußboden liegen und ging wortlos in ihr Zimmer. So war das eben. Wenn etwas Zeit vergangen wäre, würde er sie wegen ihres Verhaltens zur Rede stellen, aber im Moment waren andere Dinge wichtiger.
Die Wohnung war dunkel und wirkte abweisend und kalt. Schnell machte Óðinn das Licht an und schaltete den Fernseher ein, obwohl er nichts Bestimmtes sehen wollte. Dann holte er das Telefon und wählte die Nummer seines
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