Seelenfeuer
Dach sie vor Sonne und Regen schützte. Basilius folgte ihr, und begleitet von herzlichen Abschiedsgrüßen von Elisabeth lenkte Johannes den dunklen Wagen zum Pfarrhaus. Pater Wendelin lehnte bereits reisefertig an dem großen Stein neben seiner Kirche. Nach einer kurzen Begrüßung stieg auch er auf den Wagen.
»Und bist du bereit, dich einer der interessantesten Abteien unserer Zeit anzuvertrauen?«, fragte Wendelin geheimnisvoll, als die Hälfte des Weges hinter ihnen lag.
Luzia nickte voller Vorfreude. Schließlich war es alles andere als selbstverständlich, als Frau in einen Männerkonvent geladen zu werden. Während der folgenden Tage würde die Benediktinerabtei Reichenau ihre Unterkunft sein. Die Fahrt entlang des Bodenseeufers verlief ohne einen Zwischenfall, und als sie wenige Stunden später die weitläufige Abtei erreichten, wurden sie vom Abt des Klosters bereits an der Pforte in Empfang genommen. Nach einer herzlichen Begrüßung wies ihnen Abt Johann Pfuser von Nordstetten geräumige Zimmer zu. Der hagere Abt, dessen graue Tonsur nur einen schmalen Haarkranz zurückließ, begleitete sie selbst zu ihren Unterkünften. Luzia hatte das Gefühl, seinen ruhigen Augen entgehe nichts.
»Die Vesper beten wir zur sechsten Stunde, bevor wir uns im Anschluss zum Nachtmahl im Refektorium treffen. Ihr seid natürlich herzlich eingeladen«, sagte der Abt freundlich, bevor er die Kammertür schloss.
Luzias Kammer war zwar einfach gehalten, dennoch ließ sie eine behagliche Gemütlichkeit nicht vermissen. Die weißgekalkten Wände des Fachwerkbaus strahlten Wärme und Ruhe aus. Den kühlen Steinboden bedeckte ein kleiner Teppich aus dunkler Wolle, und unter dem winzigen Fenster, von wo aus Luzia auf den Bodensee sehen konnte, stand ein zierlicher Schreibtisch mit geschnitzten Beinen. Schließlich befanden sich an der gegenüberliegenden Wand ein schmales Bett und eine einfache, aber geräumige Truhe. Während Luzia ihre Habe auspackte, genoss sie immer wieder den Blick
über das spiegelglatte Wasser. Als grüne Insel lag die Reichenau im westlichen Teil des Bodensees zwischen Radolfzell und Konstanz. Sie sah schwerbeladene Lädinen vorüberziehen. Die bauchigen Lastensegler transportierten auf dem Seeweg, was zwischen den Städten und dem weiten Hinterland ausgetauscht und verkauft wurde. Allem voran Wein, Salz, Getreide und Sandstein aus dem eidgenössischen Rohrschach.
»Ich bin so aufgeregt!«, gestand Luzia später. »Schließlich weiß ich überhaupt nicht, was ich dem ehrwürdigen Abt zur Antwort geben soll, wenn er meine Glaubensfestigkeit prüfen möchte.«
An Pater Wendelins Seite eilte sie durch den Kreuzgang, vorbei an den großzügigen Arkaden, die das Klostergebäude zum begrünten Innenhof hin öffneten. Das Refektorium, wo jeden Moment das Nachtmahl eingenommen wurde, lag im westlichen Teil des Gebäudes.
»Sei unbesorgt! Du bist fest genug in deinem Glauben, und für den Rest empfehle ich dir, sei einfach du selbst, und du wirst das Herz des Abtes im Sturm erobern.«
Der Pater sollte recht behalten. Nach dem Essen begegnete Abt von Nordstetten seinen Gästen äußerst freundlich und offen. Er lobte Luzias Tätigkeit als Hebamme der Stadt Ravensburg als wichtig und unverzichtbar. Weiter bestand er darauf, alles über den Kräutergarten in Seefelden und die neuesten Beete in Ravensburg zu erfahren.
»Bruder Markus kann es kaum erwarten, bis er Euch morgen all seine Pflanzen zeigen darf«, sagte von Nordstetten mit einem warmen Lächeln.
Die Abtei umfasste mehrere Gebäude und schien äußerst bequem zu sein. Besonders den begrünten Innenhof schloss Luzia in ihr Herz. Viele Stunden verbrachte sie hier im Gespräch mit Abt von Nordstetten. Innerhalb der kunstvoll beschnittenen Buchshecken gediehen auf einem Teppich aus dichten Farnen mehrere Inseln der dunkelblauen Schwertlilie.
»Die Iris ist ein Symbol für das Überbringen der göttlichen Botschaft«, klärte sie der Abt auf.
Einst hatte das Kloster eine der bedeutendsten Malschulen für Buchkunst in ganz Europa beherbergt, und noch immer wurden im Skriptorium die lateinischen Texte ins Althochdeutsche übersetzt. Ehrfürchtig stand Luzia vor den Regalen und bewunderte den St. Galler Klosterplan, der vor fünfhundert Jahren im Kloster Reichenau erstellt worden war. Er umfasste die Grundrisse von rund vierzig Gebäuden sowie die Gartenanlagen und Wege und galt als Ideal für die Planung und den Bau vieler Klosteranlagen in ganz
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