Seelenfeuer
vor Schreck die Hand auf ihren Mund. Sie wollte nicht an die Hexen erinnert werden, die im Grünen Turm saßen und auf den Tod warteten. Unter ihnen befand sich auch Luzia. Jede Nacht haderte Nanne mit ihrem Gewissen. Mit Schaudern dachte sie an die Wasserprobe. Für sie selbst und auch für viele andere Ravensburger hatte das Gottesurteil Luzia freigesprochen. Doch die Inquisition war anderer Meinung und keinesfalls von ihrer Unschuld überzeugt gewesen.
Selbst die Beichte, die Marianne Rössler bereits mehrfach bei Hochwürden Gebrath abgelegt hatte, verschaffte ihr keine Erleichterung. Kaplan Grumper war für die gesamte Dauer des Inquisitionsprozesses von seinen seelsorgerischen Aufgaben freigestellt, und der junge Pfarrer, den das Kloster zu Altdorf der Gemeinde Liebfrauen überstellt hatte, war voll des Lobes für Nannes Mithilfe im Kampf gegen die Hexen gewesen. Doch verging keine Nacht, ohne dass Marianne von Luzia träumte, während sie tagsüber der Gedanke nicht losließ, etwas Unrechtes getan zu haben. Hätte sie Institoris doch nur nicht erzählt, dass Luzia bisweilen die Raben unter der alten Buche auf der Kuppelaue fütterte …
»Wisst ihr etwas über Luzia Gassner?«, fragte Ottilia Zengerle jetzt leise.
Marie Weber schüttelte den Kopf, während Nanne betroffen auf ihre Schuhspitzen starrte.
»Die Hebamme wird wohl zu Michaeli neben der Lanznerin und ihrer Komplizin brennen«, sagte die Bühlerin hart und streichelte ihren Marderpelz. »Bisweilen soll sie des Nachts den Kerker verlassen und in Gestalt einer schwarzen Katze den Neugeborenen die Kehle herausreißen.«
»Das glaubst du doch selbst nicht. Das ist doch Unsinn! Sicher hast du Nepomuk gesehen, er streift seit Luzias Verhaftung Tag und Nacht um den Grünen Turm«, entgegnete Marie Weber energisch.
»Das stimmt, auch ich habe Luzias Kater schon dort gesehen«, sagte Marianne tonlos.
Die Bühlerin schüttelte den Kopf. »Nun ja, wenn man bedenkt, welches Glück ich hatte, dass die Gassnerin unter der Geburt weder mich noch mein Kind verhext hat … Grete Muntz schreibt es allein meiner Bußfertigkeit und meiner Festigkeit im wahren Glauben zu, dass die Hexe mir nichts anhaben konnte. Die guten Worte waren mir dann auch eine großzügige Kirchenspende wert«, bemerkte die Bühlerin.
»Es gab eine Zeit, da warst du voll des Lobes für die Wehmutter«, sagte Marie Weber scharf. »Damals warst du davon überzeugt, dass du die Geburt ohne Luzias Hilfe nicht überlebt hättest!«
»Tja, und wenn man bedenkt, dass vielleicht in jeder von euch eine Hexe steckt und ihr alle bereits morgen neben der Gassnerin im Grünen Turm auf den Tod warten könntet, wird mir ganz bang ums Herz.«
Entsetzt starrten die Frauen Christina Bühler an.
»Was glotzt ihr so? Denkt lieber über meine Worte nach!«
In Marie Webers Blick spiegelte sich Fassungslosigkeit, ehe sie sich bekreuzigte und eilends davonging. Sie wollte mit alldem nichts zu schaffen haben. Auch Nanne Rössler verabschiedete sich mit einem gemurmelten Gruß.
Eine neue Bedrohung ritt in Begleitung eines schwarzen Reiters durch Ravensburg. Der Reiter kam aus Augsburg und hatte den Tod im Gepäck. Er nahm sich ein Bett im Goldenen Anker, wo ihn der Wirt bereits am nächsten Morgen tot auffand, das Gesicht vom Todeskampf entstellt, mit schwarzen Beulen in der Leistengegend und unter den Achseln. Als Nächstes traf es den Wirt selbst und einige seiner Gäste, dann hatte die Pest sich eingerichtet und schlug wahllos in den Ravensburger Häusern zu. Lautlos und schnell löschte der Schnitter ganze Familien aus. Niemand entging seiner Sense, er unterschied nicht nach Reich oder Arm, nach Alt oder Jung. Von den ersten Krankheitszeichen bis zum Tod vergingen nur wenige Tage. Den an Lungenpest Erkrankten blieben oft nur wenige Stunden.
Der Pestkarren, ein großer Wagen ohne Plane, der von zwei Maultieren und den Knechten selbst gezogen wurde, fuhr beinahe Tag und Nacht durch die Straßen, um die vielen Opfer einzusammeln.
Der Leichnam eines Wachmanns wurde aus der Breiten Gasse in der Unterstadt geschleppt. Der dicke Ochsenwirt war innerhalb weniger Stunden gestorben. Auf dem Karren lagen auch der Leichnam von Doktor Sauerwein und der tote Bader, Meister Rochus, der Mariannes Vater gewesen war.
Der junge Bruder Walko aus dem Antoniterspital war der furchtbaren Krankheit ebenso zum Opfer gefallen wie die Altmutter Weber und deren Sohn. Der Pestkarren brachte die Leichen zum nächstgelegenen
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