Seelenflüstern (German Edition)
bekam ich die Augen auf, als der süße Duft von Moms Fliedershampoo aus dem Badezimmer zu mir hereinwaberte. Zeit zum Aufstehen. Ich musste zur Schule. Wie jeden Morgen streckte ich mich erst einmal, doch ein schneidender Schmerz am Bauch ließ mich zusammenzucken.
»Guten Morgen.« Aldens Stimme war nur ein Flüstern. Ich erstarrte. Mit wild hämmerndem Herzen drehte ich mich auf die andere Seite. Er saß in der Ecke an meinem Schreibtisch, war im schwachen Morgenlicht fast unsichtbar. Hektisch warf ich einen Blick auf die offene Zimmertür. Mom würde ausrasten, wenn sie in meinem Zimmer einen Jungen fand.
»Keine Sorge. Sie ist unter der Dusche.«
Ich zog mir die Decke bis ans Kinn. »Was machst du hier?«, flüsterte ich.
»Meinen Job.« Er setzte sich einen Papierfrosch auf die Handfläche, den ich aus einer Elternbenachrichtigung der Schule gefaltet hatte. »Reg dich nicht auf. Alles im grünen Bereich.«
Der Duschhahn quietschte, als Mom ihn abdrehte. Beim Aufsetzen stach es in meinem Bauch. »Du musstweg. Wenn Mom dich hier sieht, bringt sie mich um. Ich darf keine fremden Jungs mit aufs Zimmer nehmen.«
»Finde ich gut.« Alden grinste. Vorsichtig setzte er den Frosch zurück zu der Sammlung von Papierfiguren auf dem Schreibtisch.
Moms Kommodenschublade ächzte beim Aufziehen, dann wurde sie wieder zugedrückt. »Lilian! Steh auf! Du musst zur Schule«, rief Mom aus ihrem Schlafzimmer.
»Heute nicht«, flüsterte Alden. Er zog sich in den dunklen Schatten in der Zimmerecke zurück.
»Was soll ich denn machen?« Das Schloss meiner Schranktür rastete mit einem Klicken ein. Na prima. Jetzt hatte ich einen Typen im Kleiderschrank. Perfekt.
Ohne weitere Vorwarnung ging das Licht an. »Lilian. Zeit für die Schule.«
Mit der Hand schützte ich meine Augen vor den zehn Millionen Watt, die von der Zimmerdecke strahlten. Mom stand mit dem Finger am Schalter an der Tür. »Alles in Ordnung? Du siehst blass aus.« Während ich noch gegen den Drang ankämpfte, nachzusehen, ob die Schranktür auch richtig geschlossen war, legte sie mir schon die Hand auf die Stirn. »Du bist ganz verschwitzt.«
»Ja. Ich fühle mich nicht besonders.« Das war nicht gelogen.
»Vielleicht hilft eine Dusche. Komm.« Mom zog mir die Decke weg. »O Lilian.« Sie runzelte die Stirn. »Als ich nach Hause kam, hast du schon geschlafen. Wenn ich gewusst hätte, dass du deine Kleider noch anhast, hätte ich dich geweckt.«
Ich rutschte zur Bettkante und überlegte fieberhaft, wie ich Mom loswerden konnte, bevor sie merkte, dass Alden sich im Schrank versteckte. »Ich war gestern Abend ziemlich erledigt.« Besorgt betrachtete Mom meine knittrigeKleidung. Ihr Blick blieb an dem Blutfleck auf meinem Shirt hängen. »Und mit Ketchup habe ich mich auch bekleckert.«
Mom kam näher. »Das sieht aber nicht nach Ketchup aus.«
Sie hatte recht. Der eingetrocknete Blutfleck war rostrot – fast braun. Wenn sie herausfand, dass ich verletzt war, würde sie nie gehen. »Ach, das muss der Dip für die Shrimps gewesen sein. Worcestersoße oder so.«
Ich schnappte mir meinen Bademantel und schob mich an ihr vorbei. Erst als ich draußen im Flur fast das Gleichgewicht verlor, merkte ich, wie schwach ich war. Gegen die Wand gestützt wartete ich darauf, dass der Fußboden aufhörte, sich zu bewegen. Das leise Klicken meines Kleiderschrankschlosses ließ mein Herz zwei Gänge zulegen.
Mom strich mir das Haar aus dem Gesicht. »Lilian, Süße, du bist krank. Soll ich dich zum Arzt fahren?«
»Nein!«, sagte ich viel lauter als beabsichtigt. »Nein danke. Ich brauche bloß eine Dusche und noch ein bisschen Schlaf.«
Sie nahm mein Gesicht zwischen die Hände und sah mir in die Augen, als suchte sie dort etwas. Das hatte sie auch bei Dad oft gemacht. Mein Herz fühlte sich an, als würde es sich verknoten. Sie wusste Bescheid.
Tränen stiegen ihr in die Augen. »Du kannst über alles mit mir reden. Das weißt du doch, nicht wahr?«
Ich nickte, brachte aber kein Wort heraus.
»Ich muss los. Heute darf ich auf keinen Fall zu spät ins Büro kommen. Die Schule rufe ich von unterwegs aus an und melde dich dort krank. Sag Bescheid, wenn du etwas brauchst.«
Dann umarmte sie mich fest und lange. Der Fliederduft und ihre Wärme versetzten mich in die Zeit zurück, als ichnoch klein gewesen war. In die Zeit vor Dads Krankheit und vor den Stimmen. Damals hatte ich mich geborgen und sicher gefühlt.
Ich duschte so schnell, wie es unter den Umständen
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