Seelenglanz
Dorthin versetzte ich mich jetzt. Es war eine ziemlich belebte Gegend, was ich sofort zu spüren bekam. Kaum hatte ich mich auf dem Gehweg vor Joeys Grill materialisiert – wobei ich mich wie üblich auf einer anderen Daseinsebene befand als die Menschen, sodass mich diese nicht sehen konnten –, da marschierten zwei mit Einkaufstüten bepackte Frauen geradewegs durch mich hindurch. Sie konnten mir keinen körperlichen Schaden zufügen, trotzdem mochte ich es nicht, jemanden in meinem Innersten zu spüren. Ich empfand es als Verletzung meiner Intimsphäre und vermied es deshalb, wenn ich konnte.
In diesem Fall blieb mir jedoch keine Zeit mehr auszuweichen.
Die Körper der beiden Frauen waren warm, was die Berührung erträglich machte, die tiefgefrorenen Lebensmittel in den Einkaufstüten standen auf einem anderen Blatt. Der schlagartige Wechsel von warm zu eisig ließ mir für einen Moment den Atem stocken.
Dann war es vorüber.
Die beiden Frauen und ihre kalte Fracht waren an mir vorbei und mein Körper gehörte wieder mir. Damit das auch so blieb, zog ich mich rasch an die Hauswand zurück.
Für gewöhnlich betrat ich Restaurants sichtbar und in Form meines menschlichen Alter Ego Kyle O’Neil. Da ich jedoch etwas herausfinden wollte, musste ich für die Menschen weiterhin unsichtbar bleiben. Ich wollte mich gerade einen Tick weiter dematerialisieren, sodass ich nicht nur für Menschen unsichtbar, sondern auch stofflos genug war, um durch die Wand in den Laden zu gleiten, als ich bemerkte, dass die Wände aus Stahlbeton waren. Hier draußen hatte ich ausreichend metallfreien Raum um mich herum und konnte meine Kräfte ungehindert einsetzen, doch der verbauteStahl verhinderte, dass ich die Wände durchdringen konnte. Versuchte ich es dennoch, würde ich im besten Fall einfach abprallen – im schlimmsten Fall bliebe ich stecken und wäre gefangen, bis ein Engel mit einem Stemmeisen anrückte, um mich aus meiner misslichen Lage zu befreien. Glücklicherweise war die Eingangstür aus Holz, sodass ich mich nur kurz konzentrieren musste, und schon konnte ich durch sie hindurch in den Laden gleiten.
Dahinter hob ich meine Konzentration wieder auf, bis ich mich vollständig im Hier und Jetzt befand und meine Umwelt mit allen fünf Sinnen erfassen konnte. Mit dem einzigen Unterschied, dass ich weiterhin nicht sichtbar war.
Joeys Grill war ein Laden, wie es ihn zu Tausenden gab. In der Mitte waren Vierertische aufgestellt, um die sich Stühle gruppierten, und an den Wänden entlang erstreckten sich gemütliche Sitznischen mit grün gepolsterten Bänken. Die verlebten Eichenholzmöbel strahlten eine eigentümliche Behaglichkeit aus. Vermutlich war der Laden ein beliebtes Ziel für Familien gewesen, bevor die Wirtschaftskrise viele dazu gezwungen hatte, seltener auswärts zu essen. Für die Mittagspause der Angestellten der umliegenden Büros und Geschäfte war Joeys Grill nicht schick genug. Das war wohl auch der Grund, warum selbst jetzt, zur Mittagszeit, nicht einmal ein Drittel der Tische belegt war.
Ich ließ meinen Blick weiterwandern. An der Rückwand des Gastraumes war eine kurze Bar, zu ihrer Linken konnte man durch die Essensausgabe einen Blick in die dahinterliegende Küche werfen, während rechts von der Bar weitere Sitznischen die Wand säumten, zwischen denen ein Gang in den hinteren Teil des Ladens, vermutlich zu den Toiletten, führte.
Der dunkel geflieste Boden unter meinen Sohlen war klebrig und gab bei jedem Geräusch ein leises Schmatzenvon sich, das außer mir niemand hören konnte. Solange ich nicht anfing, Stühle durch die Gegend zu rücken oder Gläser schweben zu lassen, würde meine Anwesenheit unbemerkt bleiben. Und selbst wenn ich mich entscheiden sollte, mit der Einrichtung zu spielen, würden die Leute es vermutlich nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Oder anderen – erklärbaren – Umständen zuschreiben. Ganz sicher käme niemand auf die Idee, dass sich ein Engel in ihrer Mitte befand. Da hätte ich meinen nicht vorhandenen Heiligenschein noch so schön polieren können.
Ich durchquerte den Laden auf der Suche nach diesem Jules. Die Bedienungen, die zwischen den Tischen umhereilten, waren allesamt weiblich. Außerdem trugen sie rote T-Shirts, wohingegen ich hinter der Essensausgabe ein blaues Shirt ausmachen konnte. Offensichtlich war das die Farbe des Küchenpersonals.
Die Essensausgabe war nichts weiter als ein Durchbruch in der Wand mit einem kleinen Tresen, auf dem die Köche
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