Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
hast du wohl in Petersburg aufgeschnappt, kann das sein?«
»Ich bin nun mal sehr empfänglich für Einflüsse aus meiner Umgebung. Aber wieso eigentlich Grunge?«
»Frag lieber, warum öde.«
»Ich blicke zwar nicht ganz durch, aber ich vermute, du bist gerade sehr witzig. Na gut, ich verzieh mich mal. Bis später.«
»Bis später.«
Meine Laune hat sich um hundertachtzig Grad gedreht. Ich ziehe rasch frische Klamotten an und sause los.
Das SSSR auf dem Newski-Prospekt setzt die gute alte Tradition des Moskauer Restaurants Shiguli fort, nur verfremdet in Richtung Glamour. Das alte Shiguli war ursprünglich für Leute zwischen dreißig und vierzig oder älter gedacht, die sich beim Sound der Siebziger- und Achtzigerjahre der Nostalgie ergaben und vor einem Foto von Breschnjew ein paar Tränchen der Rührung abdrückten. Das SSSR hingegen hat man speziell für deren Kinder aufgezogen, also für Leute, die keine eigenen Erinnerungen an die Achtzigerjahre haben, aber genau wissen, dass dieser Stil gerade angesagt ist. Sie tragen Trainingsjacken und Turnschuhe von Adidas, hören Disco und denken: Genauso war das damals. So eine Bar würde in London oder New York so was von sowjetisch wirken; rote Neonbuchstaben, rote Comiczeichnungen an den Wänden, Smirnoff- und Absolut-Wodka, dazu ein attraktiver
Name, wie zum Beispiel USSR, KGB oder Red Army. Kurz, ein mit viel Glamour aufgepeppter realsozialistischer Mief mit optisch auf KGB getrimmten Kellnern und Kellnerinnen.
Hier im SSSR allerdings sind die Kellnerinnen ganz reizend, die Musik ist gut, die Küche weniger. Obwohl ich sagen muss, dass ich die Pelmeni irgendwie mag, und die hausgemachten Buletten sowieso. Das Einzige, was das Bild ein wenig stört, ist so eine riesige Heldentafel mit den albernen Partyfotos, die über dem Tresen hängt. Wenn man schon auf Schickimicki-Sozialismus macht, dann sollte das wenigstens ein Flachbildschirm sein.
Zur Mittagszeit herrscht in diesem Laden nur mäßiger Betrieb. Man hat das Gefühl, dass die Petersburger nicht zu Mittag essen. Oder vielleicht essen sie grundsätzlich nur zu Hause. Oder in einer von den unzähligen Klitschen, wo das Menü im Schnitt bei 150 Rubel liegt. Was mir im Prinzip am Arsch vorbeigeht, ich lebe schließlich in einer anderen Stadt.
Guljakin sitzt an einem Tisch am Fenster, vor sich eine Flasche Hennessy VSOP. Er scheint seinen spendablen Tag zu haben. Dann bemerke ich die beiden Whiskeygläser und den Teller mit den Zitronenscheiben. Was für ein Proletengeschmack.
»Hallo«, sage ich und merke, dass mir die gute Laune gar nicht schwerfällt, schließlich habe ich einen sehr angenehmen Abend vor mir.
»Mahlzeit!«
»Wartest du schon lange?«
»Seit einer Viertelstunde«, antwortet Wolodja und gibt mir dadurch zu verstehen, dass das heutige Treffen für ihn sehr wichtig ist.
»Ich habe mich im Hotel irgendwie vertrödelt, und dann bin ich wohl den Newski in die verkehrte Richtung gefahren.«
»Macht ja nichts, du bist schließlich der Gast.«
Die Speisekarte wird gebracht, ich bestelle Gemüsesalat und Pilzsuppe, dazu hausgemachte Buletten. Wolodja nimmt einen Salat mit Huhn, Borschtsch und noch irgendwas mit Fleisch. Dann sitzen wir da, sehen uns an, rauchen und wissen nicht, wie wir das Gespräch beginnen sollen. Letztlich ist das ja auch nicht meine Sache. Ich denke, Wolodja sollte versuchen, einen möglichst unverbindlichen Einstieg zu finden, um dann möglichst elegant aufs Thema zu kommen.
»Oh«, ruft er plötzlich aufgeregt. »Dieser Typ da hinten, mit dem war ich auf der Uni. Sein Vater hat in Deutschland mit Putin zusammengearbeitet.«
Das ist wieder so ein besonderes Petersburger Phänomen. Als Putin russischer Präsident wurde, erfasste die Stadt ein »Magnet-Syndrom«, wie ich das nenne. Kaum ein Petersburger kann seitdem der Versuchung widerstehen, sich selbst direkt oder indirekt mit Putin in Verbindung zu bringen. In der Praxis sieht das so aus, dass jeder Petersburger eine besondere Geschichte für Besucher aus Moskau parat hat. Diese Geschichte hat er jederzeit wie ein Schnappmesser griffbereit in der Hosentasche stecken. Nehmen wir zum Beispiel an, eine Unterhaltung dreht sich um Sport. Man beginnt beim Fußball, geht über zum Hockey und kommt dann zur Formel-1. Der Petersburger mit seiner vorbereiteten Geschichte wartet jetzt nicht mehr, bis das Gespräch etwa beim Ringkampf landet, er zückt vielmehr sein Geschichtenschnappmesser
und legt los: »Ach übrigens,
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