Seelenkuss / Roman
Stunde zunahm. Aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken – nicht jetzt.
Zwielicht setzte ein, und mit ihm machte sich eine neue, unbekannte Furcht bemerkbar. Ein verwundbares Kind, das er liebgewonnen hatte, war in Gefahr. Reynard hatte früher schon gekämpft, um Unschuldige zu schützen, aber nie solche, die sich binnen weniger Stunden in sein Herz geschlichen hatten. Das war neu und, verdammt, es war schrecklich! Er fühlte sich ohnmächtig.
Das Haus war schon abgesucht worden, physisch und magisch. Es existierten keine Hinweise auf einen Kampf; niemand hatte etwas gesehen. Alles deutete darauf hin, dass jemand – sehr wahrscheinlich einer von Belenos’ Untergebenen – Eden geschnappt und verschleppt hatte. Holly glaubte, Eden hätte zur Seitentür hinaus- und an den Höllenhunden vorbeigeschlichen sein können, um zum Laden an der Ecke zu gehen. Manchmal brachen Kinder Regeln einzig deshalb, weil es sie gab, und Eden war schon einmal weggelaufen.
Verdammt!
Reynards Herz schmerzte vor Mitgefühl mit ihr und mit Ashe. Er hätte sich nie erträumt, Ashe Carver einmal weinend in seinen Armen zu halten. Lange dauerte es auch nicht, bis sie sich ihm wieder entwand und aktiv wurde, aber er hatte ihren Kummer am ganzen Leib gespürt.
Sie hatte seinen Trost gewollt, und er schätzte es, dass sie ihm vertraute. Dennoch machte er sich entsetzliche Vorwürfe. Nach dem bizarren Angriff in der Bücherei hatte er mit einem weiteren Anschlag gerechnet, allerdings nie erwartet, dass er sich gegen Eden richten würde.
Ich dreifach verfluchter Idiot!
Bei Gott, er würde Eden zurückholen! Er hatte jeden mobilisiert und auf die Suche geschickt. Danach war er ins Haus zurückgekehrt. Er brütete bereits an einem Plan – was ein Glück war, denn die Suchtrupps konnten nichts vorweisen.
Nun verstand er wahrlich, welchen Verlust Constance gelitten hatte, als er sie von ihrem Sohn trennte, und er hasste sich aufs Neue dafür, dass er ihr solchen Schmerz zugefügt hatte. Es fühlte sich wie ein Fleck an – dunkel und verdreht wie die Tätowierungen der Wächter –, der jene Leere schwärzte, die seine Seele hätte einnehmen sollen.
Ich muss sie zurückholen!
Um Edens, um Ashes und vielleicht auch um seiner selbst willen, als Wiedergutmachung für vergangene Taten.
Koste es, was es wolle!
Es gab einen Ort, an dem nach Ashes Tochter zu suchen bisher niemand gedacht hatte.
Das Haus fühlte sich schwer und betrübt an, als wäre es in Trauer. Vielleicht gab es sich ebenfalls Schuld. Reynard lief die Stufen in den ersten Stock hinauf, wo Holly, wie er wusste, ein Zimmer eigens für ihre Arbeit mit Magie eingerichtet hatte. Sie war die einzige Erwachsene, die sich noch im Haus aufhielt, und versuchte gerade, einen Aufspürzauber zu wirken.
Reynard blieb in der Tür stehen. Er war vom Treppensteigen im Laufschritt außer Atem. Das war ihm noch nie passiert. Er wurde merklich schwächer. Verdrossen schluckte er seine Angst um sich hinunter. Die Sicherheit des Kindes kam zuerst.
Hollys Zimmer war von unzähligen Kerzen erleuchtet, ausgenommen die Ecke, in der Robins Korbwiege stand. Das Baby schlief tief und fest. Auf dem Boden lag ein schlichter blauer Teppich, der von einem weißen Kreis umgeben war. Steine, die sorgfältig entlang des Kreises plaziert waren, markierten die Kompasspunkte. In der Mitte befand sich ein Quadrat aus Seide mit glitzernden Silberfäden. Darauf lagen Hollys magische Instrumente und eine Messingschale mit süßlich duftendem Weihrauch. Holly kniete im Kreis, eine Karte vor sich ausgebreitet. Sie hielt einen Kristall an einer langen Silberkette und wartete, dass er anzeigte, wohin Eden gegangen war.
Reynard blieb an der Tür, bis Holly zu ihm aufsah. Ihre grünen Augen, die Ashes so ähnelten, waren tränennass. »Ich schaffe es nicht. Es ist, als würde sie sich vor uns abschirmen, doch das ist nicht möglich. Sie beherrscht ihre Magie noch gar nicht.«
»Oder jemand anders schirmt sie vor uns ab.« Seine Idee nahm Gestalt an. Die Teile fügten sich zusammen wie Tonscherben eines zerbrochenen Gefäßes.
»Wer?«
»Hast du in der Burg nachgesehen?«
Holly riss die Augen weit auf. »Warum sollte sie da sein?«
»Weil wir wissen, dass Belenos dort Verbindungen hat.«
»Wer?« Holly wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab, als wäre ihr schlecht. »Gott, ich klinge total bescheuert, was?«
»Tu es einfach!«, verlangte Reynard schroff.
Sie schluckte. »Dazu brauche ich etwas aus
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