Seelenqual: Peter Nachtigalls zweiter Fall (German Edition)
spürbare Hauch von Wehmut. Er würde lernen müssen damit umzugehen, dass sie nun ihren eigenen Weg gehen würde. Allein – oder eben mit Emile Couvier. So oder so, sie war alt genug ihre Entscheidungen selbst zu treffen – warum fiel es ihm nur so schwer das zu akzeptieren? Weil du langsam hysterisch wirst und Angst vor dem Alleinsein hast, beantwortete er sich die Frage selbst.
Jule reichte ihm eine Flasche Wein und er löschte damit die zischenden Zwiebeln ab.
»Einmal, als sie nach langer Abwesenheit plötzlich wieder auftauchte, erzählte sie uns, sie sei in einem Camp in Afghanistan zur Kämpferin ausgebildet worden und stehe nun einer Eliteeinheit zur Befreiung des Landes zur Verfügung. Ahmet würde sie anrufen, wenn er sie benötige. Fortan hielt sie permanent ihr Handy in der Hand, um seinen Anruf nicht zu verpassen. Ein anderes Mal hatte sie angeblich als Mitarbeiterin einer Frauenorganisation für die Gleichberechtigung der Frau im Iran demonstriert. Sie machte eben gern viel Wirbel um sich. Immer wieder ging das Gerücht um, sie habe versucht sich das Leben zu nehmen – aber das habe ich nie geglaubt. Dazu nahm sie sich einfach viel zu wichtig. Wer hätte denn dann die Welt retten sollen!«
»Sie war krank.«
»Ja, das glaube ich auch.«
Es klingelte und Jule lief zur Tür.
Nachtigall kam es wie eine Ewigkeit vor, bis die beiden Turteltauben endlich den Weg in die Küche fanden. Emile Couvier war groß und schlank. Er trug grundsätzlich einen Anzug und eine einfarbige Krawatte zum Hemd. Nachtigall musste sich nicht davon überzeugen, er wusste, dass Emiles Schuhe gewienert und poliert waren. Noch immer stieß er sich an dem für seinen Geschmack zu lackierten Aussehen des jungen Mannes, wobei er zugeben musste, dass Emile sich beim letzten Fall vorbildlich verhalten hatte.
Gut, räumte Nachtigall in Gedanken ein, gut, es stimmte, der junge Mann war irgendwie auch sehr sympathisch, ehrlich und zuverlässig. Aber das gab ihm trotzdem nicht das Recht einem Vater die Tochter wegzunehmen.
Die beiden Männer nickten sich zu und Peter Nachtigall schenkte dem Gast ein Glas Wein ein. Er hatte den Freund seiner Tochter zwar in diesem Krisennovember schätzen gelernt, aber so richtig konnte er sich doch nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass Emile nun der wichtigste Mann in Jules Leben war. Tatsächlich nahm er es ihm entsetzlich übel, was er aber weder sich selbst noch jemand anderem eingestehen wollte. Hatte er nicht auch gestern zu Sabine gesagt, er fände es toll, wie selbstständig Jule sei? Heuchler, Schwindler, dachte er, Sabine hatte sicher ohnehin kein Wort davon geglaubt.
Casanova, Kater der Familie, war mit Emile ins Haus gekommen und schnurrte nun hoffnungsvoll um die Beine seiner Menschen. Eine Strategie, die, wie er aus Erfahrung wusste, fast immer zum Ziel führte.
»Du bearbeitest den Fall Petzold?«
»Ja. Und es ist wirklich nicht zu glauben, aber die meisten Menschen, auf die wir bei den Ermittlungen stoßen, weinen ihr keine Träne nach.«
»Das kann ich ganz gut verstehen«, Jule küsste ihren Freund auf dem Weg zum Herd auf die Nase. »Sie hat es eben prima verstanden alle Welt gegen sich aufzubringen.«
Nachtigall setzte einen Topf Wasser für die Nudeln auf.
»Solche Typen gibt’s. Zielsicher treffen sie alte Verletzungen oder irgendwelche Eitelkeiten. Stolpern von einem Ärger zum nächsten«, bestätigte Couvier.
»Bei Friederike war es schlimmer. Sie konnte machen, was sie wollte. Selbst die Lehrer haben vor ihr gekuscht.«
»Sie war dominant? Tja – da wollten sich die Lehrer wohl nicht noch mehr Ärger einhandeln und zusehen wie Friederike nach einem Anpfiff die ganze Klasse mobilisiert.«
»Mag sein. Ungerecht war es trotzdem. Andere bekamen für nicht halb so schlimmes Fehlverhalten einen Verweis oder ihre Eltern wurden einbestellt. Ihre letzte, große Tat war die Befreiung einer Freundin aus den Fesseln der Familie. Das war was. Friederike hat der anderen eingeredet, sie müsse nach Dänemark fliehen zu irgendeiner Sekte, die darauf spezialisiert wäre, ihre durch die falsche Erziehung der Eltern nahezu zerstörte Seele in letzter Sekunde noch zu retten! So ein Blödsinn! Dass jemand überhaupt so was glaubt! Dann hat sie die Eltern des anderen Mädchens terrorisiert, die natürlich völlig fertig waren, weil sie fest davon überzeugt waren, dem Mädchen sei etwas Schreckliches zugestoßen. Aber bald wurde klar: Die Kleine hatte sich nur abgesetzt. Nach einer
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