Seelensplitter: Thriller (German Edition)
Zimmerschlüssel in die Hand, zeigt ihr den Fahrstuhl und wünscht ihr einen angenehmen Aufenthalt. »Wenn Sie Informationen oder Tipps haben möchten, sprechen Sie mich jederzeit an«, sagt er in akzentfreiem Deutsch.
Das Zimmer hat ein Fenster zur Straße, ist blitzsauber und so groß, dass hier auch zwei Leute gut Platz hätten. Sie muss daran denken, dass Sven ihr einen gemeinsamen Urlaub in Aussicht gestellt hatte. Es hatte nicht geklappt, und das war ihr ganz recht gewesen. Sie verstaut ihre paar Kleidungsstücke im Schrank und hängt ihre Jacke über einen Bügel.
Sie schaut aus dem Fenster. Die Straße unten ist stark befahren, am Busbahnhof gegenüber jedoch herrscht im Moment nur wenig Betrieb. Auf dem Tisch im Zimmer liegt ein Stadtplan, den Lina vor sich ausbreitet. Die Calle de San Vicente liegt direkt neben der Kathedrale von Oviedo, nicht allzu weit entfernt von ihrem Hotel. Alles zu Fuß machbar. Sie zieht sich den Lidstrich nach und macht sich auf den Weg.
Nahezu alle Häuserfassaden sind liebevoll restauriert, nirgendwo liegt Müll herum. Auf den meisten Balkons stehen Grünpflanzen, und in den Blumenkästen blühen bunte Frühlingsblumen.
Unter Sonnenschirmen sitzen Einheimische und Touristen beim Bier oder Cortado. Für einen Psychotherapeuten ein passabler Alterssitz, denkt Lina, sauber, malerisch, ohne aufgeregte Massen von Menschen und weit weg von all den Abgründen, in die er während seiner Arbeit in Hamburg gesehen hat.
Lina geht durch eine Markthalle, die sich mit türkisen Fensterstürzen an die uralten Mauern eines mittelalterlichen Stadthauses schmiegt. Kandelaber ragen in die Straßen, und die vorgebauten Erker sehen aus wie eckige Häusernasen.
Sie beobachtet den Ober in einem Café, der seinen rechten Arm nach oben ausfährt, so weit es geht. In der Hand hält er eine Flasche landestypischen Apfelwein. Seinen linken Arm streckt er gleichzeitig ganz tief nach unten. In dieser Position lässt er den »Sidra« ins Glas strömen. Zielpunkt des Strahls ist der obere Glasrand. Der Apfelwein schäumt auf und landet zum Teil auf dem Pflaster. Lina hat davon gelesen, dass durch diese Art einzuschenken ein großer Teil der Gerbsäure herausgespült wird und auch dass der Wein erst durch den Strahl sein Aroma erhält.
Carlheims Antiquitätengeschäft fügt sich mit zwei Fenstern zwischen einen Laden mit Geschenkartikeln und ein Büro, das Immobilienangebote ausgehängt hat.
Schon an den Auslagen des Antiquitätengeschäfts erkennt Lina, dass sie hier richtig ist. Afrikanische Masken, Speere, asiatische Vasen, mittelalterliche Gemälde, Barockstühle und -tische, Wandteppiche, Geschirr aus der Region. Die Auswahl wirkt wild gemischt, was vermutlich die Kunden auf ein besonders günstiges Angebot hoffen lassen und ins Geschäft locken soll. Schließlich sieht es so aus, als würde der Besitzer sich nicht so genau auskennen.
Soweit Lina durch die Scheibe sehen kann, ist es drinnen recht gemütlich. Sie tritt ein. Ein junger Mann kommt auf sie zu und fragt sie auf Englisch, ob sie einen besonderen Wunsch hat oder ob sie sich einfach mal umsehen will. Sie nickt und sieht über seine Schulter hinweg Severin Carlheim aus einem der hinteren Räume kommen. Seine Hose ist mit goldenen Flecken übersät, und er wischt sich die Hände mit einem Lappen ab.
»Lina«, sagt er. Er klingt, als sei es das Allernormalste, dass sie hier auftaucht. Er streckt ihr seine Hand entgegen. »Ich habe Sie schon erwartet.«
Lina verschlägt es die Sprache. Sie gibt ihm die Hand und sieht sich nach einer Sitzgelegenheit um.
»Empiresessel, wahrscheinlich aus einer Rumpelkammer von Versailles. Setzen Sie sich ruhig, Lina, das Ding hält sicher noch ein paar Jahrhunderte durch. Ich hol uns einen Cortado.«
Severin Carlheim sieht um zehn Jahre jünger aus. Die scharfen Gesichtsfalten sind verschwunden, der weiße Bart gestutzt. Um die Augen zeigen sich sonnengebräunte Lachfältchen, und seine Augen strahlen.
»Wie geht es Ihnen? Was macht die Arbeit bei der Polizei?«
»Eigentlich ganz gut«, sagt Lina und sieht sich im Laden um. »Dass Sie Antiquitäten mögen, wusste ich. Aber seit wann handeln Sie damit?«
»Ein netter Zeitvertreib für einen alten Seelenklempner wie mich. Man kann den Problemen mit Poliermitteln, Farbe und Entwurmungskuren beikommen. Feine Sache.«
Er zeigt ihr seine mit Goldfarbe besprenkelten Hände und sagt: »Ich versuche mich gerade an einem Rahmen. Leider eine wirkliche Pleite, er
Weitere Kostenlose Bücher