Seelentraeume
unserem Fall lag der Streit lange zurück und war sehr tief verwurzelt.«
»Wurde dein Vater deshalb auf dem Markt erschossen?«
»Ja, ich war damals noch zu jung, um das Familienoberhaupt zu sein, nach dem Maßstab des Moors noch ein Kind, Gustave war eindeutig die bessere Wahl. Also rückte er an die Spitze unseres Clans. Er hatte zwei Töchter, Cerise, die inzwischen mit dem besten Freund des Earls von Camarine verheiratet ist, und eben Sophie.«
»Dann bist du ihr Vetter?«
»Streng genommen. Aber unser Verhältnis war immer eher das von Onkel und Nichte. Ich könnte ihr Vater sein. Und Gustave hatte häufig viel zu tun. Eines Tages nahm er seine Frau und Cerise unterwegs mit. Sophie kam zu mir, weil sie mit dem Boot flussabwärts nach Sicktree, der nächsten Stadt, fahren wollte. Der Geburtstag ihrer Mutter stand bevor und sie wollte Wein verkaufen, um ein Geschenk für sie besorgen zu können.«
Ihr davon zu erzählen war, als würde die alte Wunde in seinem Innern wieder aufreißen. Es überraschte ihn, dass sie nach all den Jahren immer noch so wehtat. »Celeste, meine andere Cousine, begleitete sie, ich konnte nichts Schlechtes dabei finden. Celeste war eine tüchtige junge Frau und gute Schützin. Im Moor kennt jeder jeden, und unsere Familie galt als gefährlich. Außer der Familie, mit der wir in Fehde lagen, hätte sich den beiden niemand in den Weg zu stellen getraut, und der Streit schwelte damals nur noch. Also erlaubte ich den beiden den Ausflug.
Sie waren kaum zwanzig Minuten unterwegs, als sie an eine Bande Sklavenhändler gerieten. Celeste erledigten sie mit einem Kopfschuss. Sie stürzte ins Wasser, Sophie sprang ihr hinterher. Als Sophie wieder auftauchte, schlugen ihr die Sklavenhändler ein Ruder über den Kopf und zogen sie in ihr Boot.«
Charlotte rückte näher und verschränkte ihre Finger mit seinen.
»Von Sklavenhändlern hatte man im Moor noch nie etwas gehört. Sie hatten nur über die Grenze mit Louisiana eindringen können, und die wird streng bewacht. Also musste jemand aufseiten des Herzogtums ihnen den Weg für ihren Raubzug bereitet haben. Wir haben nie in Erfahrung gebracht, wer und wieso. Die Mädchen kamen nicht nach Hause, und als wir an jenem Abend den Fluss hinabgefahren sind, haben wir Celestes Leiche aus dem Wasser gezogen. Daraufhin durchkämmten wir den Sumpf, hatten aber keine Ahnung, wer Sophie verschleppt haben mochte und aus welchem Grund.«
»Wohin haben die sie gebracht?«, wollte Charlotte wissen.
»Zu einem Loch im Wald. Sie waren gezielt auf Kinder aus. Sie warfen sie in ein Erdloch, Sophie hat später berichtet, dass am zweiten Tag ein Mann zu ihr nach unten kletterte. Er hat sie betatscht und wollte ihr die Kleider vom Leib reißen.«
Charlottes Augen glänzten vor Empörung.
»Sophie kann Blitze schleudern. Wie die meisten von uns ist sie gut ausgebildet. Allerdings war ihre Ausbildung damals noch nicht abgeschlossen, trotzdem hat sie sich zur Wehr gesetzt. Sie hat mit ihrem Blitz die Augen des Mannes durchbohrt und ihn damit getötet. Als Strafe bekam sie nichts mehr zu essen und zu trinken. Wir fanden sie erst nach acht Tagen. Ich erinnere mich noch an dieses Lager, als wäre es gestern gewesen: halb geflutete Erdlöcher, verhungernde Kinder, manche bereits tot, andere sterbend. Wir haben die Sklavenhändler abgeschlachtet. Ich bin in das Erdloch gesprungen und habe Sophie herausgeholt. Als ich sie hochhob, stand ich auf der Leiche des Sklavenhändlers. Ein Teil seines Körpers fehlte.«
»Göttin der Morgenröte, sie hat ihn
gegessen
?«
»Ich weiß es nicht, ich habe sie nie gefragt. Sie wusste ja nicht, wann wir kommen würden, also tat sie, was sie tun musste, um zu überleben. Aber danach war sie nicht mehr dieselbe. Zuerst hörte sie auf, ihre Haare zu bürsten, dann zog sie keine schönen Kleider mehr an, schließlich beschloss sie, dass sie ihren Namen nicht mehr mochte, und wollte Lark genannt werden. Die meiste Zeit brachte sie im Wald zu und hörte zu sprechen auf. Sie jagte kleine Tiere oder stieß auf Aas, das sie im Wald in einen Baum hing, weil sie sich für ein Monster hielt und glaubte, wir würden sie in den Wald jagen, damit sie dort für sich selbst sorgte.«
Charlotte setzte sich auf. »Hast du Hilfe für sie bekommen?«
»Es gibt im Moor keine Heilerinnen-Colleges«, entgegnete er. »Wann immer ich mit ihr reden wollte, rannte sie davon, als wäre ich einer von denen. Eine meiner Cousinen ist Ärztin, nicht wie du,
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