SeelenZauber - Die Wahrheit (German Edition)
würde der Drache aus Millionen kleiner Kacheln bestehen, verfärbten diese sich augenblicklich dort, wo die Wellen über sie liefen. Von der Brust über die Beine, den Kopf, den Hals, den Rücken, bis sie am Schwanz ausliefen. Nilah hörte ihr Herz nicht mehr schlagen. Selbst das war still geworden.
Als hätte man von allen Stränden der Welt die Muscheln gesammelt und sie wie Dachpfannen über den Körper gelegt. Mit der Ausnahme, dass sie allesamt die gleiche Farbe hatten. Ein dunkles Blau, das kurz davor war, ins Schwarz abzugleiten.
Mit nur einer Bewegung, die aber aus dem gesamten Körper kam, richtete sich der Drache auf und die Piken der Decke zersplitterten wie Zahnstocher an seinem Rücken. Auf einige wenige, die am Boden stehen geblieben waren, setzte er seine Pranke und zertrat sie. Die eisernen Stangen, welche immer noch aus seinen Knien stakten, fingen plötzlich an, rötlich zu glühen. Immer heller und schließlich so grell wie die Flamme eines Schweißbrenners. Als das Licht verging, zerfielen sie zu Staub und rieselten zu Boden.
Langsam und mit einer Eleganz, die man solch einem Tier niemals zugetraut hätte, machte der Drache einen Schritt auf Nilah zu. Und dann, als wären sie die ganze Zeit nur angelegt gewesen oder unter die Haut gedrückt, entfaltete der Drache zwei Schwingen von so gigantischer Größe, dass Nilah für einen Moment ehrfürchtig jeden Gedanken anhielt.
Die Flügel aber waren aus Wasser. Sie waren lang und schmal und nur einen Hauch davon entfernt durchscheinend zu sein. Ihre Oberfläche kräuselte sich leicht und in ihnen konnte man helle Gebilde sehen, die sich wie Korallen verästelten.
Der Drache machte noch einen Schritt auf sie zu und senkte den Kopf, aus dem nun die Hörner wuchsen, die man ihm abgesägt hatte. Schwarze, leicht gelblich schimmernde, wie aus Eis geformte Hörner. Unregelmäßig. Mit Kanten und Zacken.
Tief, ganz tief sah er ihr in die Augen. Jede Zelle in Nilahs Körper vibrierte wie eine Note.
Ein Lächeln huschte durch seine Augen.
»Das, was ich gerade getan habe, Nilah, das kann ich nur ein einziges Mal tun. Ich habe dein Herz, deine Seele und somit die Zeit selbst angehalten. Sie waren aus dem Takt, schon viel zu lang. Sie schlugen und drehten sich zu schnell. Niemals hättest du zu fassen bekommen, was so wichtig für dich ist. Aber jetzt kannst du es tun, du musst es tun. Du musst dich daran erinnern und endlich damit leben. Ich habe diese Erinnerung in mir aufgestoßen, welche mich so grausam hier gefangen hielt. Ich habe die Schmerzen an deiner satt auf mich genommen, aber nun ist es an der Zeit selbst in dieses Gesicht zu blicken.«
Seine Augen wurden traurig, wissend, es war schwer sie überhaupt noch anzusehen, so sehr konnte man darin das Unvermeidliche erkennen.
»Geh, Nilah, und ziehe diesen allerletzten Schatten herauf ins Tageslicht, damit er all seinen Schrecken verliert. Ich werde immer für dich da sein. Alle werden das.«
Und mit diesen Worten schloss der Drache die Augen und Nilah fühlte, wie sie in ihren eigenen Körper hineingesogen wurde. Sie taumelte, alles war schrecklich dunkel, so wie eine Nacht ohne Lichter. Dann stand sie vor der Angst, sie war nur angelehnt. Der Geruch trieb ihr Schauer über den Rücken, so gut kannte sie ihn. Langsam öffnete sie die Tür und ging hinein in die Erinnerung.
Trauma = Wunde
Verschwunden waren all jene Dinge, die Nilah so krampfhaft zu vergraben versucht hatte. Jetzt kamen sie zurück … zu einem zehnjährigen kleinen Mädchen.
Es war ein Tag voller heldenhafter Taten gewesen. Sie hatte dem höllisch sprühenden Wasserspucker mit einem tollkühnen kurzen Sprint erheblich zugesetzt. Sie hatte kilometerhohe Mauern erstürmt und dann, nach dem Sieg, wie ein träger Brummkreisel auf einer Luftmatratze gedümpelt und den heißen Lauf der Sonne verfolgt.
Sie war mehr als vierhundert Meter tief getaucht, nur um gegen den fiesen Prinzen und seine Algenmonster zu kämpfen und hatte ihm nach einer wahren Gigantenschlacht wagemutig die heilige, rote Muschel entrissen.
Wenn sie dann, mit fast blauen Lippen, die Ellenbogen auf den Rand dieser flüssigen Welt gelegt hatte, um wieder zu Atem zu kommen, Abdrücke von der Taucherbrille auf ihrer Stirn, hatte sie die braunen Beine ihres Vaters erspäht, wie sie vom Kiosk zurückkamen. Hier und dort hüpfte er über Handtücher hinweg, schüttelte Hände, plauderte, lachte.
Nilah liebte Wasser und sie liebte das Freibad fast so
Weitere Kostenlose Bücher