Seelenzorn
setzen.
An die toten Nutten zu denken war nicht die angenehmste Beschäftigung auf der Fahrt zum Anwesen der Pyles, aber immer noch besser als alles andere, was ihr zurzeit auf der Seele lag. Und es führte ihr vor Augen, in welcher Lage sie sich befand, und während sie sich erneut Vorwürfe machte, dass sie sich überhaupt auf all das eingelassen hatte, wurde ihr wieder flau im Magen. Wenigstens checkte sie auf diese Weise nicht alle paar Sekunden ihr Handy wie eine dumme Tussi.
Sie parkte einen Häuserblock von der weißen Grundstücksmauer entfernt und kippte ihre Pillendose aus. Vier Cepts. Ihr blieben vermutlich etwa sechs Stunden, bevor sie da rausmusste. Nicht dass sie vorgehabt hätte, wirklich so lange zu bleiben; immerhin sah der weiße Himmel bedrohlich nach Schnee aus, und ihre Gedanken drehten sich gerade um Fragen, bei denen sie nicht sicher war, ob sie sich die beantworten konnte. Oder ob sie das überhaupt wollte.
Vanita hatte ganz offensichtlich beschlossen, einen Zahn zuzulegen. Augäpfel im Auto, zwei Morde in einer Nacht. Das war eine ganze Menge. Also ... war Chess daran Schuld? Hatte die kleine Fahrt durch den Feuerofen Vanita noch wütender gemacht und sie veranlasst, sich in Windeseile einen Augenvorrat anzulegen?
Das war reine Spekulation, aber bei dem Gedanken blieben ihr die Pillen im Hals stecken.
Sie schluckte sie mit Gewalt runter und fuhr weiter.
Vor dem weißen Himmel wirkte das Haus noch bedrohlicher, als hielten allein das graue Schieferdach und die blanken Knochenfinger der Äste es davon ab, sich auf sie zu stürzen. Letzte Nacht war ihr nicht viel Zeit geblieben, über die Geister nachzudenken, die sie hier gesehen hatte, über die Axt, die zur Decke emporgefahren und dann hinabgesaust war. Jetzt traf sie die Erinnerung mit voller Wucht, und sie schauderte, als sie aus dem Wagen stieg und einem der Wachleute die Handtasche reichte.
»Ist Merritt nicht da?«
»Kommt später.«
Gut, dass sie ihre Pillen nicht mehr bei sich trug. Er durchsuchte sie mit alarmierender Gründlichkeit, eigentlich viel sorgfältiger, als sie erwartet hätte, aber sie beschwerte sich nicht, auch dann nicht, als seine Hand etwas öfter über ihre Brust streifte als nötig.
Heute waren außerdem mehr Wachleute auf dem Posten. Der mit ihrer Handtasche - Taylor stand auf seinem Namensschild - bemerkte ihren Blick.
»Es gab letzte Nacht einen Einbruch«, sagte er. »Vermuten wir jedenfalls.«
»Ach so?«
Er zuckte die Schultern und gab ihr die Tasche zurück. »Viel Spaß. Sie können den Seiteneingang nehmen.«
»Eigentlich würde ich erst mal gerne mit ein paar von euch Jungs sprechen, wenn das okay ist.«
»Mr Pyle hat nichts von einer Befragung ge... «
»Und Sie können sich gerne bei ihm rückversichern, aber ich habe die Befugnis, jeden hier auf dem Grundstück zu befragen, wie es mir passt. Damit würde ich jetzt gerne anfangen. Könnten Sie mir bitte eine Liste mit den Namen aller Wachleute machen? Und wenn Sie von jemandem wissen, der tatsächlich eine Erscheinung gesehen hat, dann würde ich mit dieser Person gerne zuerst sprechen.«
Er zögerte. »Da muss ich erst Mr Pyle fragen.«
Arschloch. Für so was war sie heute wirklich nicht in der Stimmung. »Schön. Können Sie mir vorher bitte noch zeigen, wo die Sicherheitszentrale ist? Es ist kalt hier draußen.«
Das konnte er anscheinend sehr wohl, allerdings sprach er dabei kein Wort mit ihr.
Die Sicherheitszentrale verbarg sich hinter der Garage. Es war eine unauffällige Baracke mit blickdichten Fenstern. Ihr Spiegelbild erschien darin verzerrt, als sie vorüberging, sodass ihr Oberkörper sich in die Länge zog, ihr Gesicht zusammengestaucht wurde und ihre Stirn sich vorwölbte.
Grelle Leuchtstoffröhren vom gleichen Typ wie im Gang zwischen Haus und Garage hingen an der Decke. Zusammen mit dem winterlichen Licht, das durch die Fenster drang, verliehen sie dem Zimmer beinahe die Atmosphäre eines Ritualraums in der Kirche, farblos, sauber und abwartend.
Vor einer Wand stand ein lang gestreckter grauer Schreibtisch, auf dem sich kleine Monitore türmten. Überwachungskameras. Mist, sie hatte nicht im Traum daran gedacht, dass auch die Umgebung des Hauses mit Kameras überwacht werden könnte. Ob man sie gesehen hatte? Nein, das war unmöglich. Sonst hätte man sie geschnappt.
Aber eine der Kameras war ganz offensichtlich auf die Rückseite des Hauses gerichtet. Dort lag auch Ardens Fenster, ganz am Rand. Warum hatte sie dann
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