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Seelenzorn

Seelenzorn

Titel: Seelenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stacia Kane
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losging, und dann noch ein paar Stunden, bevor es wirklich schlimm wurde? In ihrer Handtasche hatte sie noch ein paar Bonbons, der Zucker würde es etwas hinauszögern, aber ... die ganze Nacht?
    Sie rieb sich die brennenden Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Es war schon okay. Alles würde gut gehen. In ein paar Stunden würde es aufhören zu schneien. Jede Minute konnte es so weit sein, oder? Und es war immer noch früh am Abend. Pendler würden heimfahren, die Schneepflüge würden sich ihren Weg bahnen, sie würde schon durchkommen.
    Die Pyles mit ihrem abgeschiedenen Grundstück hatten doch sicher einen kleinen Schneepflug. Vielleicht könnte ihr einer der Wachleute — vielleicht Merritt — helfen, von hier wegzukommen. Wenn sie nur noch ein bisschen durchhielt, eine Stunde oder vielleicht zwei, dann würde alles in Ordnung kommen. Eigentlich hatte sie ja sowieso damit gerechnet, dass sie etwa bis um sechs blieb, oder?
    Also. Alles würde in Ordnung kommen. Sie musste es einfach nur aussitzen, ein kleines bisschen länger durchhalten als sonst, und dann konnte sie nach Hause und ihre Pillen holen.
    Nur noch einen kleinen Moment.

16
    All die Furcht und Verzweiflung, all der Hass haben
    die Menschheit gegen die Toten schutzlos gemacht,
    denn sie vergaß die Gefahr, die vom Ungesehenen ausgeht.
    Aber das Ungesehene vergisst nie. Unablässig sucht es
    nach einer Gelegenheit zur Vernichtung.
    Das Buch der Wahrheit, »Ursprünge«, Artikel 459
    Sie musste zugeben, dass es ganz interessant war. Na gut, ungefähr so interessant wie die letzten Stunden eines Menschen, bevor er vor das Erschießungskommando tritt, aber immerhin interessant.
    Noch nie hatte sie die Gelegenheit gehabt, so viel Zeit mit den Tatverdächtigen zu verbringen, geschweige denn, eine Nacht in ihrem Haus zu schlafen.
    Schade nur, dass sie in ein paar Stunden zu nichts anderem mehr in der Lage wäre, als sich an die Toilettenschüssel zu klammern und sich zu wünschen, sie wäre tot. Sie fragte sich schon, wie sie am nächsten Morgen fahren sollte, ohne dass jemand mitbekam, dass sie kaum noch stehen konnte.
    Sie wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn und gab sich Mühe, sich auf ihren Teller zu konzentrieren. Vor den hohen Esszimmerfenstern wirbelte Schnee durch den weißen Himmel. Hier drinnen schnatterten rund um sie Stimmen und führten leere Gespräche. Über ihre letzten Einkäufe. Über gemeinsame Freunde. Wenn sie sich auch nur im Geringsten für die Welt ihrer Gastgeber interessiert hätte, hätte es ausgesprochen fesselnd sein können. So aber war sie vollauf damit beschäftigt, sich nicht die Arme blutig zu kratzen.
    Ihre Handflächen juckten wie verrückt, ebenso ihre Unterschenkel und die empfindliche Haut an den Handgelenken. Ihr Magen verhielt sich im Moment noch ruhig, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sich das änderte.
    Bedienstete räumten diskret den Tisch ab und ersetzten das kaum angerührte Hühnchen, das Chess vor sich stehen hatte, durch irgendeine Schokoladenspeise. Chess schnappte sich die Gabel. Zucker. Zucker half ein bisschen. Vielleicht sogar so sehr, dass sie sich wieder nach oben zurückziehen konnte, ohne jemanden misstrauisch zu machen.
    »Also, Miss Putnam, Sie bleiben über Nacht?«
    Fletcher lächelte ihr über eine voll beladene Gabel hinweg zu.
    Sie nickte.
    Er wandte sich Pyle zu. »Warum hast du ihr denn nicht mein Zimmer überlassen, Roger?«
    »Na ja ... weil du darin wohnst?«
    »Aber mein Zimmer ist doch das schönste. Bitte, ich bestehe darauf.«
    »Danke, Mr Fletcher, aber das ist schon in Ordnung.«
    »Nein, Sie müssen einfach mein Zimmer nehmen.«
    »Ich bin wirklich sehr gut mit dem bedient, das ich habe.«
    »Unmöglich.« Er zog die Augenbrauen zusammen wie ein Baby, dem man gerade den Schnuller geklaut hatte. »Meins ist das schönste, und Sie sollen es haben.«
    »Oliver, ich glaube, ihr ist das unangenehm«, sagte Pyle leise.
    Chess griff den Einwurf dankbar auf. »Ja, bitte, Mr Fletcher, machen Sie mich nicht noch verlegener, als ich ohnehin schon bin. Mein Zimmer gefällt mir, und ich fände es nicht richtig, Ihres zu nehmen. Bitte.«
    Fletcher öffnete den Mund, sein Gesicht war gerötet. Chess erwiderte seinen Blick so ruhig wie möglich. Das Angebot war ja nett, aber warum bestand er bloß so sehr darauf? Ihr war das doch völlig egal. Sie würde sowieso nicht zum Schlafen kommen, egal, ob sie die Nacht im Verlies oder sonstwo verbrachte.
    »Arden«, sagte

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