Seemannsbraut: Eine 40000 Kilometer lange Liebesgeschichte (German Edition)
gab es nicht genug Tote für eine umfangreiche Berichterstattung, denke ich zynisch. Ein paar Minuten bleibe ich fassungslos vor dem Artikel sitzen, dann mache ich den Rechner aus, gehe ins Bett und schreibe Heribert einen langen Brief.
Kapitel 3: Halbzeit
W o ist er gerade?«, fragt Heriberts bester Freund Andreas mich am Telefon. Innerlich zucke ich zusammen. Zum ersten Mal weiß ich keine Antwort. Von wo hat Heribert mich das letzte Mal angerufen? Ich versuche, mich zu erinnern. Und wann hat er sich überhaupt zuletzt gemeldet?
»Ich glaube, er ist in Venezuela«, antworte ich nach einer kurzen Pause. »Sicher bin ich mir allerdings nicht. Ich habe schon länger nichts mehr von ihm gehört.«
»Ich auch nicht«, sagt Andreas. »Deshalb dachte ich, ich rufe mal bei dir an.«
Andreas heißt eigentlich gar nicht Andreas, zumindest nennt ihn niemand so. Außer vielleicht seine Eltern. Alle anderen nennen ihn Hoize, weil er mit Nachnamen Holzapfel heißt. Heribert, der von den meisten auch nur Bertl genannt wird, hat viele bayerische Freunde mit ungewöhnlichen Spitznamen: Hoize, Kirchi, Hupfi, Hartl, Dammerl und Hiasl. Nur Jockel heißt tatsächlich Jockel. Am Anfang unserer Beziehung fand ich die Namen von Heriberts Freunden so befremdlich, dass ich sie mir einfach nicht merken konnte. Oder mir beim Versuch einer bayerisch klingenden Aussprache fast die Zunge brach. Mittlerweile wundere ich mich, wenn ich von Hiasl, Hartl und Hupfi erzähle und andere Leute irritiert nachfragen.
Ich sehe aus dem Fenster. Es ist Anfang November, draußen ist es ungemütlich und kalt. Die Blätter haben sich längst verfärbt, die Bäume werden von Tag zu Tag kahler.
»Und wie geht es dir so?«, will Hoize von mir wissen. Normalerweise würde ich ohne nachzudenken »Gut« antworten. Aber wenn ich das jetzt tue, fühle ich mich sofort schlecht. Darf es mir denn überhaupt gutgehen? So ganz allein ohne Heribert? Wenn meine Freunde mich nach meinem Befinden fragen, habe ich kein Problem damit zu sagen, dass es mir gutgeht. Wenn allerdings Heriberts Freunde und seine Familie fragen, bin ich mir unsicher. Bei einem »Gut« glauben sie vielleicht, dass es mir zu gut gehen würde. Dass ich Heribert nicht genug vermisse. Wahrscheinlich würden sie das gar nicht denken. Wahrscheinlich habe ich nur Angst davor, dass es tatsächlich so sein könnte.
»Alles okay«, antworte ich schließlich. Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile. Jetzt bin allerdings ich es, die die Fragen stellt.
Heriberts Freunde rufen regelmäßig bei mir an. Ich finde das gut. Im Laufe der Jahre bin ich zu einer Art Verbindungsknoten zwischen ihm und dem Rest der Welt geworden.
Heribert ist seit fast zwei Monaten unterwegs. Es ist schon fast Halbzeit. Noch weitere zwei Monate, und er kommt wieder nach Hause. Irgendwann in den vergangenen Wochen fing ich an, mich mit meiner neu gewonnenen Freiheit wohl zu fühlen. Ich fühle mich ausgeglichen und entspannt. Ich schlafe auch wieder besser. Ich genieße es mittlerweile sogar, das Bett für mich allein zu haben. Es ist niemand da, der mir die Decke wegzieht, niemand, der sich am Licht stört, wenn ich abends noch lesen möchte. Ich sehe vom Bett aus auch wieder öfter fern, und ich kann ganz allein entscheiden, was gezeigt wird. Wenn Heribert zu Hause ist, ist es nämlich so, dass er die alleinige Macht über die Fernbedienung besitzt. Natürlich könnte ich auf eine gewisse Gleichberechtigung drängen, aber Heribert kann acht Monate im Jahr gar nicht fernsehen, also darf er in den vier Monaten zu Hause auch entscheiden, was wir uns ansehen. »Du erziehst ihn noch zum Macho«, hat meine Freundin Meike einmal zu mir gesagt. Damit meinte sie aber weniger die Sache mit der Fernbedienung, als vielmehr die Tatsache, dass ich all seinen Wünschen nachkomme, wenn Heribert mich um etwas bittet. Normalerweise liegt er auf dem Sofa, und ich hole ihm seine Cola, mache das Popcorn und besorge die Eiscreme. Ich will, dass es ihm gutgeht. Wahrscheinlich hat Meike recht. Wahrscheinlich erziehe ich ihn tatsächlich zum Macho.
Ein Kollege fragte mich vor ein paar Tagen in der Redaktion, ob ich frisch verliebt sei. Ich würde so strahlen. Ich habe mich über diese Frage gewundert und entschieden verneint. Aber vielleicht stimmt es, vielleicht habe ich tatsächlich gestrahlt.
Wenn Heribert weg ist, führe ich das Leben einer Single-Frau, allerdings ohne auf der Suche nach einem Mann zu sein. Ich verreise viel und ziehe am
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