Seerache
verlieren. Er überquerte die Straße und kehrte wieder um. Gerade als er den Eingang Nummer 23 etwas näher unter die Lupe nehmen wollte, hörte er sich nähernde Schritte aus dem Inneren. Schnell griff er in die Tasche und nahm sein Smartphone heraus. Als die Eingangstür geöffnet wurde, führte er gestenreich und hochkonzentriert eine imaginäre Unterhaltung. Neben ihm trat eine jüngere Frau auf die Straße, in lässigem Businesslook und mit moderner Kurhaarfrisur. Sie stieg in ein unweit stehendes Cabrio. Henning tat, als beendete er das Gespräch und wählte eine neue Nummer; in Wirklichkeit tippte er das Kennzeichen des Fahrzeugs ein.
Wenig später bezog er erneut hinter den Postkartenständern Position. Inzwischen waren ihm die Motive bis zum Überdruss bekannt. Um keinen Verdacht zu erregen, wählte er dennoch eine Karte aus und bezahlte sie in dem Laden.
Unterdessen war ihm der Briefträger mit dem gelben »Correos«-Schriftzug auf dem Rücken keineswegs entgangen. Auf dem Gehsteig schräg gegenüber hatte er eine Art Karre abgestellt, beladen mit ein paar Paketen und einer prall gefüllten Tasche. Er entnahm ihr ein Bündel Briefe und verschwand in Nummer 23. Kurz darauf kam er zurück, nahm die Karre und zog weiter.
Henning stellte sich auf einen langen, ereignislosen Nachmittag ein. Wenn er Pech hatte, würde er sich umsonst die Füße in den Bauch stehen – insofern unterschied sich dieser Einsatz nur wenig von anderen. Von der örtlichen Polizei durfte er keine Hilfe erwarten, genau genommen operierte er sogar in einem rechtsfreien Raum. Wie stets in solchen Fällen verließ er sich auf seine bewährten Partner, die da hießen: Erfahrung und Instinkt, gepaart mit einem Quäntchen Glück.
Wenn die Observierung nichts half, blieb ihm nur noch eine Option, nämlich rotzfrech in dieses Büro zu marschieren und den Leuten, bildlich gesprochen, die Pistole auf die Brust zu setzen. Entweder umgehende Freigabe der deutschen Journalistin, oder er alarmiere die Guardia Civil . Vielleicht ließen sich die Leute ja ins Bockshorn jagen – vorausgesetzt, sie hatten wirklich Dreck am Stecken. Um seine eigene Sicherheit machte er sich dabei wenig Sorgen; er würde sich auch ohne Dienstwaffe zu wehren wissen. Selbstverständlich spräche er sich vor Beginn der Aktion mit den deutschen Dienststellen ab; sollte er nicht spätestens nach fünfzehn Minuten Kontakt mit ihnen aufnehmen, würde die Alarmierung der Guardia Civil automatisch ausgelöst, denn spätestens dann bestand konkreter Tatverdacht. Von dieser Szenerie allerdings trennten ihn noch einige Stunden, und wer konnte schon wissen, was sich bis dahin noch tat?
Er zog einen Schokoriegel aus der Jackentasche und biss hinein. Nur gut, dass er sich auf dem Flughafen mit diesen Dingern eingedeckt hatte.
Scheinbar ziellos schlenderte er die Calle San Miguel entlang, an dem einen oder anderen Laden den Schritt verhaltend, als plötzlich ein Mann aus der Nummer 23 trat. In der linken Hand trug er eine Plastiktüte mit dem Aufdruck einer mallorquinischen Supermarktkette. Zielsicher bewegte er sich in Hennings Richtung.
Der war bei seinem Anblick höchst überrascht zusammengezuckt. Schnell repetierte er die Daten, die er sich eingeprägt hatte: eins fünfundsiebzig groß, sportlich gekleidet, kräftige Figur, dazu schwarze, halblange, stark gewellte Haare. Das auffallendste Merkmal jedoch zierte sein Gesicht: eine überdimensionierte Hakennase. Kein Zweifel, es handelte sich um denselben Mann, dessen Foto er in seiner Tasche trug. Vermutlicher Name: Alvarez. Einer der Männer, die vor wenigen Tagen Sahin in seiner Suite aufgesucht hatten.
Bingo! Demnach würde er sich nicht grundlos die Füße in den Bauch stehen. Jetzt hieß es dranbleiben an dem Kerl, der, wenn ihn nicht alles trog, zu G.E.T. gehörte und als Bindeglied zwischen Palma und Überlingen zu fungieren schien.
Henning wechselte rasch die Straßenseite. Diesen Mann würde er von nun an nicht mehr aus den Augen lassen.
Wenig später war Alvarez bei seinem Wagen angelangt, einem feuerwehrroten Suzuki Ranger. Er öffnete die Fahrertür, warf die Plastiktüte auf den Beifahrersitz und setzte sich hinter das Steuer. Vorsichtig lavierte er den Wagen aus der engen Lücke und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein.
Nach einem kurzen Sprint erreichte Henning den braunen Seat Altea, den er am Vormittag bei einer Autovermietung am Flughafen angemietet hatte. Ohne Hast setzte er sich
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