Seerache
über jeden Zweifel erhaben war.
Was aber, wenn er sich irrte?
Es half alles nichts: Sie musste sich Gewissheit verschaffen. Den Leuten auf den Zahn fühlen. Entschlossen zog sie den Wagenschlüssel ab und machte sich auf den Weg.
Beim Betreten des Hauses erlebte sie eine herbe Enttäuschung. Offenbar hatten die Mittel zur Renovierung nur für die Außenfront gereicht; das Innere war in seinem ursprünglichen Zustand belassen worden. Zwar übten die grob behauenen Stützbalken und die rustikalen Bodendielen im Zusammenspiel mit den Butzenscheiben einen eigenartigen Reiz auf Jo aus, zumal die Optik des Raumes mit der ausgestellten Ware aufs Beste harmonierte. Und dennoch schien das Ganze unvollkommen.
Dann wusste sie plötzlich, was es war: Es fehlte an Licht.
Wieso, fragte sie sich, hatte man ausgerechnet an der Beleuchtung gespart? Wie viel besser würden die wertvollen Möbel und Gerätschaften zur Geltung kommen, wenn man an den richtigen Stellen ein paar Strahler anbringen würde. Nach ihrer Meinung hatten die Leute von Goldmann durchaus ein Händchen für Antiquitäten. Davon, wie man sie in Szene setzte, schienen sie jedoch nicht viel zu verstehen. Zu allem Überfluss glichen die Räume einem vollgestopften Möbellager. Da standen Schränke neben Truhen und Vitrinen, dazwischen Tische und Sitzmöbel in den unterschiedlichsten Größen und Ausführungen. Freie Flächen waren mit Stichen und Büchern belegt.
Das Einzige, was fehlte, waren Asiatika. Sollte Goldmanns Website nicht auf dem neuesten Stand gewesen sein? Oder war die Asien-Abteilung in einer anderen Etage untergebracht? Hier im Erdgeschoss schien alles um das alte Europa zu kreisen, wobei auf eine Sortierung der Stücke nach Stilepochen aus unerfindlichen Gründen verzichtet worden war.
Jo machte sich ihren eigenen Reim darauf: Vermutlich sollten die Liebhaber antiken Interieurs zum Stöbern animiert und auf diese Weise der Umsatz gesteigert werden. Allerdings wäre dieser Plan gründlich danebengegangen, denn die Kundschaft glänzte durch Abwesenheit – zumindest im Augenblick.
Dafür war etwas anderes zahlreich vorhanden, nämlich Kameras, unübersehbar an der Decke montiert. Vermutlich wurde der Verkaufsraum lückenlos erfasst. Jo kannte das. In dieser Branche gehörte Videoüberwachung zu den üblichen Sicherheitsstandards.
Interessiert sah sie sich einige Exponate genauer an. Sie betrachtete gerade einen kolorierten Kupferstich, der den Bodensee unter seinem alten Namen Lacus Brigantinus darstellte, als sie in ihrem Rücken eine forsche Stimme vernahm.
»Guten Tag, meine Dame. Was kann ich für Sie tun?«
Vorsichtig legte Jo das Blatt zurück und drehte sich um. Vor ihr stand ein groß gewachsener junger Mann, der sie freundlich musterte.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie nicht Herr Goldmann sind?«, fragte sie und lächelte ebenso freundlich zurück.
»Leider nicht. Ich meine, ja, Sie haben recht, der bin ich nicht. Kosch ist mein Name, Christian Kosch.« Er reichte ihr seine Visitenkarte, ehe er fortfuhr: »Aber ich versichere Ihnen, ich werde Sie ebenso kompetent beraten. Sie interessieren sich für alte Stiche?«
»Nun, genau genommen bin ich auf der Suche nach einer chinesischen Jade-Skulptur.«
»Oh, wir sind auch in Asiatika stark. Die haben wir allerdings im Untergeschoss. Wenn Sie bitte mit mir zum Aufzug kommen möchten …«
»Nehmen Sie’s mir nicht übel, Herr …« Sie sah kurz auf die Visitenkarte, »… Herr Kosch, aber ich muss Herrn Goldmann persönlich sprechen. Würden Sie ihn herholen, bitte?«
Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Tut mir leid, aber das geht nicht.«
»Soll das heißen, er ist nicht da?«
»So könnte man es nennen. Herr Goldmann gehört nicht mehr unserem Hause an.«
»Nicht mehr Ihrem Hause an? Wie soll ich das verstehen?« Jo sah ihn überrascht an. »In Ihrem Internetauftritt wird er als Inhaber und Geschäftsführer genannt.«
Christian Kosch winkte ab. »Nun, wie soll ich sagen … Manche Angaben darin sind etwas überholt. Herr Goldmann hat die Firma vor gut vier Monaten verkauft, Knall auf Fall und überdies sehr zum Bedauern der Angestellten.«
»Was Sie nicht sagen. Und wem gehört das Ganze jetzt?«
»Herrn Peschke, meinem neuen Chef. Einen Moment bitte, ich hole ihn her.«
Schon war er im Gewirr der Schränke verschwunden. Kurz darauf tauchte er im Gefolge eines stämmigen Mittfünfzigers wieder auf. Der wandte sich, wie ein Honigkuchenpferd
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