Seherin von Kell
geschickt, Euch sicher nach Kell zu geleiten.«
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önig Kheva von Drasnien war an diesem Vormittag gereizt. Er Khatte am vergangenen Abend ein Gespräch zwischen seiner
Mutter und einem Gesandten König Anhegs von Cherek mitgehört, und seine Gereiztheit ergab sich aus einem moralischen Dilemma.
Seiner Mutter zu gestehen, daß er gelauscht hatte, kam überhaupt nicht in Frage, deshalb konnte er mit ihr nicht darüber reden, bis sie das Thema selbst anschnitt. Das aber erschien ihm höchst unwahrscheinlich, und so befand Kheva sich in einer Zwickmühle.
Es sollte hier vielleicht erwähnt werden, daß König Kheva wirklich kein Junge war, der seiner Mutter nachspionierte. Er war im Grunde ein anständiger Junge. Aber er war auch ein Drasnier. Und ein Wesenszug aller Drasnier ist – nun, nennen wir es in Ermange-lung eines besseren Ausdrucks Neugier. Alle Menschen sind in einem bestimmten Maß neugierig, aber bei den Drasniern ist dieser Wesenszug schon beinahe zwanghaft. Manche sind der Meinung, daß ihre angeborene Neugier Spionieren zu Drasniens Hauptge-werbe gemacht hat. Andere behaupten mit derselben Überzeugung, daß generationenlanges Spionieren die natürliche Neugier der Drasnier bis zur Unübertrefflichkeit geschärft hat. Diese Streitfrage ähnelte den endlosen Argumenten, was zuerst da war, das Huhn oder das Ei, und war fast genauso sinnlos. Schon in frühester Kindheit war Kheva unbemerkt hinter einem der offiziellen Hofspione hergeschlichen und hatte dadurch das Gelaß hinter der Ostwand des Wohngemachs seiner Mutter entdeckt. Dort verbarg er sich hin und wieder, um auf dem laufenden zu bleiben, was Staatsgeschäfte und andere interessante Angelegenheiten betraf. Er war schließlich der König und hatte ein Recht auf dergleichen Informationen. Er sagte sich, daß er sie durch Spionieren bekommen und so seiner Mutter die Mühe ersparen konnte, sie an ihn weiterzugeben. Kheva war ein rücksichtsvoller Junge.
Bei dem betreffenden Gespräch war es um das mysteriöse Verschwinden des Grafen von Trellheim, seines Schiffes Seevogel und mehrerer anderer Personen, darunter Trellheims Sohn Unrak, gegangen.
Barak, Graf von Trellheim, wurde von manchen Seiten als unzuverlässig angesehen, und seine Begleiter bei diesem merkwürdigen Verschwinden waren noch schlimmer, falls das überhaupt möglich war. Jedenfalls beunruhigte die alornischen Könige die Unbere-chenbarkeit eines sich auf dem Meer – nur die Götter wußten auf welchem – herumtreibenden Baraks und seiner Schar.
Was den jungen König Kheva jedoch am meisten beschäftigte, war nicht irgendeine mögliche Katastrophe, sondern daß sein Freund Unrak dabeisein durfte und er nicht. Diese Ungerechtigkeit fraß an ihm. Die Tatsache, daß er ein König war, schloß ihn offenbar von allem aus, das auch nur im entferntesten als gefährlich angesehen werden konnte. Alle überschlugen sich schier, nur daß Kheva ja geschützt und sicher war, aber Kheva wollte nicht geschützt und sicher sein. Schutz und Sicherheit waren langweilig, und Kheva befand sich in einem Alter, in dem er bereit war, alles zu tun, nur um sich nicht zu langweilen.
Ganz in Rot gewandet, schritt er an diesem Wintervormittag durch die Marmorhallen des Schlosses in Boktor. Vor einem großen Wandteppich blieb er stehen und tat, als studiere er sein Muster.
Dann, nachdem er verhältnismäßig sicher war, daß er nicht beobachtet wurde – immerhin waren sie hier in Drasnien – schlüpfte er hinter diesen Wandteppich und in das bereits erwähnte Gelaß.
Seine Mutter besprach sich mit der Nadrakerin Vella und mit Yarblek, dem ungepflegten Partner von Fürst Kheldar. Vella machte König Kheva nervös. Sie weckte merkwürdige Gefühle in ihm, über die nachzudenken er noch nicht bereit war, deshalb ging er ihr meistens aus dem Weg. Yarblek dagegen konnte sehr amüsant sein.
Seine Sprache war derb, häufig ungemein anschaulich und mit Verwünschungen gespickt, deren Bedeutung Kheva noch nicht verstehen sollte.
»Sie tauchen schon wieder auf, Porenn«, versuchte Yarblek Khevas Mutter zu beruhigen. »Barak war bloß langweilig, das ist alles.«
»Ich würde mir ja keine solchen Sorgen machen, wenn nur ihn die Langeweile geplagt hätte«, entgegnete Königin Porenn. »Aber die Tatsache, daß diese Langeweile sich als so ansteckend erwiesen hat, beunruhigt mich. Baraks Begleiter sind nicht gerade die vernünftig-sten.«
»Ich habe sie kennengelernt.« Yarblek nickte. »Ihr könntet recht
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