Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
Schritt zurück.
Ihre Finger verloren den Halt, ihre Stirn schwebte in derLuft. Zurück blieb nichts als ein Kribbeln, hervorgerufen von nassklammen Wollfasern, die nicht mehr auf ihrer Haut lagen.
Hatte die Angst, die sich gerade auflöste, eine fast wohlige Leere hinterlassen, so wurde diese jetzt mit dem sorgfältig in ihr versenkten Schmerz ausgefüllt, diesen Mann verloren zu haben. Ihn an sein verdammtes Bein verloren zu haben.
Er schaute sie nicht einmal an, sondern zeigte auf die Truhe. »Was machst du da?«
»Ich suche Antworten.«
»Deshalb bin ich auch hier. Aber ich nehme an, dass es keine gibt, oder?«
Catheline schüttelte den Kopf, nicht verwundert, dass er aus dem gleichen Antrieb hierhergekommen war. Sie kannte ihn und wusste, was folgen würde. Er würde, wie so oft in letzter Zeit, verkrampft versuchen, sich ihr gegenüber freundlich zu verhalten. Als gäbe es einen Alltag zwischen ihnen in diesem neuen Leben, das sie niemals miteinander teilen sollten. Er musste doch wissen, wie vergebens seine Bemühungen waren.
Um nicht länger herumzustehen und ihn anzugaffen, bückte sie sich erneut über die Truhe und zog das Kleid eines Mädchens hervor, das sie nie kennengelernt hatte.
Schloss Troyenne
E rstaunt blickte Jola auf. Sie konnte sich nicht erinnern, wann Catheline, seit sie beim Pfarrer in Saint Mourelles als Haushälterin tätig war, das letzte Mal das Schloss aufgesucht hatte. Der Baron hatte damals zugestimmt, dass die junge Magddes Pfarrers rechte Hand wurde, da diesem das Alter zunehmend zu schaffen machte. Sie war gegangen, einen Beutel mit ihren Habseligkeiten auf dem Rücken, und war seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Es wurde gemunkelt, dass der Baron sogar die Kosten für ihre Verköstigung trug, da der Kirchenzehnt seit der Pest drastisch zurückgegangen war und der Bischof von Nantes sich wenig interessiert an den Gebrechen seiner Landpfarrer zeigte.
Doch nun stand Catheline vor ihr, im Stall bei den Ziegen, und sie tat recht daran, sie hier aufgesucht zu haben. Hätte der Küchenmeister erfahren, dass Jola Besuch erhielt, wäre er davon ausgegangen, dass sie ihrer Arbeit nicht nachging.
»Brictius stand vorn am Tor, er hat den Wachdienst und konnte kaum glauben, mich hier zu sehen. Es war wahrscheinlich schwerer, an ihm vorbeizukommen als an einer fremden Wache«, lachte Catheline, »denn er bestand darauf, erst einmal in aller Ausführlichkeit zu erfahren, wie es mir ergangen ist, seit ich bei Vater Jeunet lebe.«
Ihr Lachen ist angestrengt, dachte Jola, während sie das restliche Futter verteilte, sich dann die Hände an der Schürze abwischte und die Schwester umarmte. »Komm, wir setzen uns einen Moment hin«, sagte sie nur, zog den Melkschemel herbei und drehte einen der Eimer um, in denen sie sonst die frisch gemolkene Milch auffingen. »Hier haben wir Ruhe, hier wird der Küchenmeister niemals vorbeikommen.« Aufmerksam betrachtete sie Catheline und fragte sich, was der Grund war, dass ihre Schwester im Schloss auftauchte.
»Ich will dir nicht mehr Zeit stehlen als nötig, deshalb verzeih, wenn ich direkt frage, ja?«, leitete Catheline ihr Anliegen ein. »Wir machen uns Gedanken, wer hinter all diesen schrecklichen Taten steckt, die geschehen sind.«
»Wer ist wir?«
»Na ja, wir alle im Dorf«, antwortete die Schwester ausweichend, und ihre Wangen röteten sich. »Vor allem Mathis und Vater Jeunet …«
»Geht es dir und Mathis gut?«
Ein flüchtiges Nicken, der rechte Schuh der Schwester scharrte im Stroh, das den Boden bedeckte. »Es ist nicht leicht seit dem Überfall, aber lass uns jetzt über Babette sprechen. Du musst zurück in die Küche, oder?«
Jola nickte und sah das Gesicht der Verstorbenen vor sich. Schmal und blass. Ein wenig jungenhaft hatte sie gewirkt, und schön war sie nur gewesen, wenn sie gelacht hatte, wenn ihre dunklen Augen zu glühen begonnen hatten.
»Hatte Babette einen Freund auf dem Schloss?«, fragte Catheline unvermittelt.
»Du meinst einen Liebhaber?«
»Ja, irgendjemanden, dem sie nahestand.«
»Nein.«
»Hatte sie häufig mit den Berittenen zu tun?«
»Nein.«
»War sie öfter vom Schloss weg? Also, vielleicht im Wald, um Beeren oder Pilze zu sammeln, Reisig zu brechen oder Ähnliches? Wurde sie mit nach Nantes geschickt, um Einkäufe zu erledigen?«
»Nein, auch das nicht. Warum stellst du diese Fragen? Es steht dir nicht zu, dir solche Gedanken zu machen.«
»Irgendwer muss sie sich machen«, entgegnete
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