Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
und verzweifelt nach Luft greift.
Da sie nichts mehr hört, setzt sie bedächtig ihren Weg zum Atelier fort und stößt die Tür auf. In einer Ecke wartet eine leere Leinwand auf der Staffelei auf ihren ersten Pinselstrich. Dank der vielen Bogenfenster, die nach Jemmas Angaben eingebaut wurden, ist das Atelier lichtdurchflutet. Monatelang hat sie von diesem Raum und der Einsamkeit geträumt, die sie darin zu finden hoffte, um dem Alltag zu entfliehen und in eine andere Dimension einzutauchen. Seit es fertig ist, möchte sie nur noch dasitzen, aus dem Fenster schauen und den Duft frisch geschlagenen Holzes einatmen, damit sie nach der aufgeregten Aktivität und der aufgewühlten Gefühle des letzten Jahres zur Ruhe kommen kann. Sie wird es wissen, wann sie wieder bereit ist zu malen.
Sie sitzt in einem alten Korbsessel, der auf die hinteren Weiden und die nahe gelegenen Berge ausgerichtet ist, denen sich die dunkel einladenden Reihen des Waldes von Wombat Hill abrupt entgegenstellen. Am liebsten schließt sie die Augen und versucht, wenn sie diese wieder öffnet, mit den Augen eines Kindes zu sehen. Während sich Farbflecken ihrem Gedächtnis einbrennen, verfolgt sie, wie sich diese mit dem wechselnden Licht verändern. Jemma überlegt, wie sie den überraschenden Gefühlsschwankungen gerecht wird, die diese Aussicht in ihr auslöst. Die Szenerie ist sowohl pastoral als auch ursprünglich, beständig und unbeständig, vertraut und fremd. Die auf ihrer Weide grasenden schwarzweißen Kühe, die hoch aufragenden Eukalyptusbäume, um deren Stämme sich Rindenfetzen winden. Und dann gibt es noch die nicht sichtbare Dimension – das, was darunterliegt. Ein wabenartiges Geflecht von Tunneln zieht sich tief in die Berge hinein durch den gesamten Bezirk. Und so verbringt sie viel Zeit damit, sich zu überlegen, wie sie diese unterirdische Betriebsamkeit in ihre Gemälde einbinden kann, wie sie die Stimmen sichtbar machen soll.
Später steht Jemma vor dem Spülstein in der Küche und wäscht das Geschirr ab, wobei ihr Blick auf den Hof fällt, während Gotardo den Ochsenkarren in Vorbereitung auf die Pflanzung über die Erde des Gemüsefelds treibt. Sie sieht den Ochsen in dem ihr sichtbaren Ausschnitt hin- und herstapfen und bekommt kaum mit, dass er da ist, bis Gotardo plötzlich einen Schrei ausstößt und taumelnd von seinem Sitz kippt. Während er noch die Zügel hält, taucht der Ochse mit dem Kopf voraus in die Erde ein, als hätte ihn ein Ruf der Unterwelt ereilt. Und der Karren folgt dem in den klaffenden Abgrund stürzenden Ochsen. Während sich die Einbruchstelle wie eine zischende Zündschnur über das ganze Feld ausbreitet, gelingt es Gotardo gerade noch rechtzeitig, vom Karren abzuspringen, wobei sein Sturz von der frisch umgegrabenen Erde abgefedert wird. Als Jemma zu ihrem Ehemann kommt, starrt er auf Knien ungläubig in die tiefe Höhle, in die sein Ochse mitsamt dem Karren gestürzt ist.
Jemma und Gotardo sitzen beim Nachmittagstee im Schatten der von Weinlaub umrankten Pergola vor dem Haus, als ein Mann vor ihrem Tor anhält und sich anmutig von seinem Pferd schwingt. Sie verfolgen, wie er die Zügel über den Torpfosten wirft, um seine Stute festzubinden, seinen Schlapphut zurechtrückt und mit langsamen Schritten den Weg zu ihnen hochkommt. Er hat leichte O-Beine, bewegt sich jedoch locker, was bei einem Mann, dessen sehniger Körper wie aus Stein gemeißelt wirkt, verwundert. Sie haben schon den ganzen Nachmittag mit ihm gerechnet. Jemma hüstelt, und der Mann sieht sich erschrocken um, bis er die im Grün halb versteckten Gestalten entdeckt.
Hastig zieht der Mann seinen Hut. »Nathaniel Byrne von der Geological Survey. Sie haben einen Unfall gemeldet.«
Sie begleiten ihn zur hinteren Weide, erklären ihm, was passiert ist, und zeigen auf den Boden, der zu einer langen Grube unbekannter Tiefe abgesackt ist.
»An den Rändern bricht der Boden noch immer ein. Ich halte es nicht für klug, zu dicht ranzugehen«, sagt Gotardo.
»Und der Ochse?«
»Kein Zeichen und kein Geräusch von ihm. Das arme Tier wird sich den Hals gebrochen haben. Was auch das Beste ist, denn herausziehen hätten wir ihn nicht können.«
»Ich muss zu meiner Schande gestehen«, wirft Jemma ein, »dass ich es versäumt habe, meinem Mann von den Stimmen zu erzählen, die ich am selben Tag neben dem Gemüsebeet vernommen habe. Nie hätte ich gedacht, dass er in Gefahr war. Dass er sich sein eigenes Grab pflügen könnte!«
Die
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