Seidenfpade
Botschafterin«, sagte der Türsteher und wiederholte seinen Bückling.
»Darauf würde ich nicht wetten«, murmelte Gillespie, aber so, daß nur Cassandra es hören konnte. Diese ignorierte den Sergeant-Major, lächelte und winkte dem Türsteher freundlich zu.
»Die Ehre ist ganz meinerseits«, versicherte sie.
Der Türsteher führte die vier zum azurblauen Portal, öffnete beide Flügel und lud sie mit einer Handbewegung zum Eintreten ein. Es war, als würde man in eine andere Zeit zurückversetzt, eine Zeit, in der Maschinen noch nicht existierten.
Nur Götter.
Über der Tür, die zum Innengebäude führte, befanden sich
zwei stilisierte goldene Hirsche, die ein Rad trugen. Sowohl Shane als auch Dani kannten das Symbol, denn dasselbe Motiv prangte an jedem tibetisch-buddhistischen Tempel.
Die Hirsche symbolisierten den Ort, an dem Buddha seine erste Predigt gehalten und die vier edlen Wahrheiten verkündet hatte - das Leiden, den Ursprung des Leidens, die Aufhebung dieser Ursache und den Weg, der dorthin führte. Das Rad repräsentierte die vier Komplexe und deren Beziehung zum Menschen und zum endlosen Zyklus von Geburt, Tod und Wiedergeburt.
Gemalte Buddhas prangten an den Wänden, die Hände in anmutiger Lotushaltung auf die Schenkel gelegt. Dahinter befanden sich Paravents, die den großen Saal an drei Seiten in eine Ansammlung kleinerer Räume unterteilten.
Überall gab es Gebetsmühlen, die darauf warteten, von Gläubigen in Bewegung gesetzt zu werden, um ihre frommen Botschaften gen Himmel zu schicken. Die Luft war erfüllt von Weihrauch, und sie hörten den fernen, tiefen Gesang von Mönchen.
Dem Ohr eines Europäers mußten die Laute eher primitiv als sakral Vorkommen. Im Gegensatz zum vollen Klang der gregorianischen Chöre hörte es sich eher an wie das gutturale Keuchen eines Ungeheuers. Die tibetischen Gesänge besaßen etwas geradezu Hypnotisierendes, etwas, das über den individuellen Verstand hinausging und das kollektive Unterbewußtsein ansprach.
Erst jetzt merkte Dani, daß der Türsteher verschwunden war. Niemand sonst erschien.
Nachdem sie eine Minute gewartet hatten, nahm Gillespie eine militärische Ruhehaltung an, die deutlich seine Ungeduld signalisierte. Shanes Haltung war etwas lässiger, unter der Oberfläche jedoch genauso erwartungsvoll.
»Nicht die übliche Begrüßung?« flüsterte Dani ihm zu.
»Weit davon«, hauchte Shane zurück.
»Prasam Dhamsa muß stinksauer auf mich sein.«
Gillespie sagte etwas in der melodiösen Sprache der Jamaikaner.
Cassandra warf ihm einen Seitenblick zu und antwortete in derselben Sprache.
»Ich mag es nicht, wenn man mich wie einen verdammten
Dienstboten herzitiert, Botschafterin«, fügte Gillespie auf englisch hinzu. Dann, aber viel leiser: »... ganz besonders, wenn es sich um eine Falle handelt.«
»Egal«, murmelte Cassandra, »wir werden hübsch vorsichtig sein, und vielleicht kriegen wir ja dann das Mönchlein, verstehst du?«
»Wenn das eine Falle ist«, mischte Shane sich gedämpft ein, »dann bezweifle ich, daß Dhamsa was damit zu tun hat.«
Gillespie schnaubte.
»Kann sein«, meinte Cassandra. »Und sollte das mit der Falle zutreffen, hat er aber unter seinen Mönchen gewaltig an Einfluß verloren, was von uns um so größere Wachsamkeit erfordert.«
Shane dachte einen Augenblick darüber nach, dann nickte er. Nach einigem weiteren jamaikanischen Gemurmel verfiel auch Gillespie in Schweigen.
Dani beobachtete die Szene mit Interesse. Cassandra mochte zwar der Boß sein; aber das war nicht der Grund, warum sie das letzte Wort behielt. Beide Männer respektierten ganz offensichtlich ihre Intelligenz und beugten sich ihr aufgrund dieses Respekts. Doch jeder von ihnen konnte ihr wie ein Streichholz das Genick brechen. Gillespie war sogar noch größer als Shane. Cassandra reichte dem Sergeant-Major kaum bis zum Schlüsselbein, doch sie benahm sich, als ob das überhaupt nicht von Belang wäre.
Vielleicht stimmt das ja bei manchen Männern, dachte Dani. Bei ungewöhnlichen jedenfalls ...
Der Gedanke ließ ihr keine Ruhe. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß irgendwann während der Pubertät die männliche Spezies Mensch stärker wurde als die weibliche. Punktum. Alle Rufe nach grundsätzlicher Gleichstellung änderten nichts an dieser unverrückbaren Tatsache. Im Grunde also konnte der Mann sich von der Frau nehmen, was er wollte, wenn er seine körperliche Überlegenheit ausspielte.
Dani erinnerte sich noch gut an
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