Seidenfpade
den Schock, den sie erlitt, als die Jungen, die sie mit ihrem Köpfchen und ihren schnellen Reflexen bisher immer besiegte, auf einmal stärker waren als sie. Einige von ihnen wurden sogar schneller.
So wie Shane. Dani hatte noch nie einen Mann gesehen, der sich so schnell bewegte wie er auf dem Dach in Lhasa. Und umsichtig noch dazu. Doch vor allem waren seine Bewegungen beherrscht und kontrolliert.
Vielleicht ist das ja das einzige, worauf es ankommt, dachte Dani. Männer und Frauen können friedlich miteinander auskommen, wenn die Männer freiwillig auf die Ausübung ihrer körperlichen Überlegenheit verzichten.
Steve hat das nie gelernt, wollte es auch gar nicht. Er genoß es in vollen Zügen, mich unterzubuttern. Er hat Gebrauch gemacht von seiner Stärke.
Nein, steigerte Dani sich grimmig, er hat sie mißbraucht. Und mich.
Nach Steve glaubte Dani, daß in allen Mann-Frau-Beziehungen die Frauen am kürzeren, schmerzhaften Strang zogen. Doch wenn man Cassandra, Gillespie und Shane so beobachtete, dann konnte man sich des Gedankens nicht erwehren, daß es noch andere Möglichkeiten des Zusammenlebens gab, friedliche, gewaltlose Formen.
Sie warf einen Seitenblick auf Shane und fragte sich, auf welcher Basis eine Frau wohl eine Beziehung mit ihm eingehen konnte. Er war so unheimlich beherrscht. Fast bis zur Besessenheit.
Shanes eiserne Disziplin beruhigte und beunruhigte sie gleichermaßen.
Was würde passieren, wenn er einmal die Zügel locker ließe? grübelte Dani im stillen.
Der Gedanke war nicht gerade ermutigend.
Aber sie mochte ihn trotzdem.
»Von dem Maler Gilbert Stuart«, sagte Cassandra jetzt.
Dani merkte, daß sie Shane angestarrt hatte - und er sie. Seine Augen bildeten durchdringende enge Schlitze. Rasch wandte sie sich Cassandra zu, die ein Wandgemälde der Eingangshalle begutachtete, in der man sie warten ließ.
»Muß wohl bei dem Mobiliar dabeigewesen sein«, meine Shane.
»Die Mönche respektieren Kunst, auch wenn es nicht ihre eigene ist.« »Warum sind die Azurmönche nach Virginia gekommen?« fragte Dani. »Die hochindustrialisierte Ostküste der Vereinigten Staaten ist doch kaum der richtige Ort für Klosterbrüder, die die Einfachheit und Spiritualität des Lebens in Konventen propagieren.«
»Die Welt ist klein und wird immer kleiner«, dozierte Shane. »Die Azurmönche haben schließlich eingesehen, daß sie sich nach außen öffnen müssen, wenn sie die Chinesen jemals besiegen wollen.«
Etwas in Shanes Stimme faszinierte Dani.
»Haben Sie Ihnen zu dieser Einsicht verholfen?« fragte sie.
»Ich weiß nicht.«
»Es ist keine sehr erfreuliche Tatsache, nicht wahr?« meinte Dani.
Shane schwieg. Am Ende war es Cassandra, die etwas sagte.
»Ob gut oder schlecht, die Azurmönche sind mittlerweile recht weltlich geworden«, sagte sie. »In diesem Haus hier empfangen sie offizielle amerikanische und englische Regierungsvertreter, die sie mit einem Hauch östlicher Kultur beeindrucken.«
»Ganz schön gewagt«, Dani verschränkte die Arme. »Politiker suchen immer nach irgendeinem gemeinsamen Nenner. Die Düfte, die kehligen Gesänge und gemalten Buddhas sind den amerikanischen Politikern doch vollkommen fremd.«
Cassandra lächelte ein wenig.
»Da stimme ich Ihnen zu«, murmelte sie. »Vor achtzehn Monaten, als ich hier zusammen mit der Hälfte der Botschafter in Washington ein Seminar besuchte, gab es nur eine Prise Weihrauch und keine Gesänge - und die Buddhabilder hingen im Dunkeln statt im Scheinwerferlicht.«
»Dhamsa muß Sie inzwischen für schockgeprüft halten«, bemerkte Dani.
Eine Tür sprang auf, bevor Cassandra antworten konnte. Eine Schar tibetischer Männer in azurblauen Roben kam in einer ordentlichen Reihe hereinspaziert, fast so forsch und gleichförmig wie eine Soldatentruppe.
Selbst barfuß und in flatternder Baumwolle war ihr Anführer groß und beeindruckend. Er trug eine runde Nickelbrille mit Metallrand, einen schwarzen Bürstenschnitt und den Gesichtsausdruck eines Mannes, der es gewohnt ist zu befehlen.
»Guten Tag, Frau Botschafterin«, sagte der Lama in gebrochenem Englisch. »Schwierig ich hoffe nicht, die Reise war.«
Sein starker Akzent wies darauf hin, daß die englische Sprache eine Tortur für ihn war, die er nur widerwillig ertrug.
»Prasam Dhamsa, Euch zu sehen ist immer einige Mühe wert«, schmeichelte Cassandra ihm.
Sie bot ihm ihre Rechte. Der Buddhist nahm sie in beide Hände. Die Geste sollte wohl warm und formell sein,
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