Sein Bruder Kain
verschiedenen Stadien der Krankheit dort lagen.
»Haben Sie die Eimer mitgebracht?«
»Was?« Er fuhr herum und fand sich einer Frau mit müdem, schmutzstarrendem Gesicht gegenüber. Ihr Alter war kaum zu schätzen; sie hätte genausogut achtzehn wie vierzig sein können. Ihr Haar war fettig und irgendwo an ihrem Hinterkopf zum Knoten gedreht. Sie hatte breite Hüften und einen kräftigen Oberkörper, aber sie ging gebeugt. Es ließ sich unmöglich feststellen, ob das Gewohnheit oder Müdigkeit war. Ihre Gesichtszüge waren beinahe ausdruckslos. Sie hatte zuviel gesehen, um noch in irgend etwas Gefühle zu investieren. Ein Fremder, der die fraglichen Eimer mitgebracht haben mochte oder vielleicht auch nicht, war der Mühe gewiß nicht wert. Enttäuschungen standen auf der Tagesordnung.
»Haben Sie die Eimer?« wiederholte sie, aber ihre Stimme war leiser geworden, als wüßte sie bereits, daß die Antwort ein Nein sein würde.
»Nein, ich bin hier, um mit Lady Callandra Daviot zu sprechen. Tut mir leid.« Er ließ die Tasche auf den Boden fallen.
»Möchten Sie eine warme Pastete?« Ihre Augen weiteten sich ein wenig.
Er rollte das Zeitungspapier auf und gab ihr eine. Sie war immer noch warm und der Teig knusprig. Ein winziges Bröckchen blätterte ab und fiel zu Boden.
Sie zögerte nur einen kurzen Augenblick, und ihre Nasenflügel bebten, als sie den Duft wahrnahm.
»Ja. Gern.« Sie nahm die Pastete und biß schnell hinein, bevor er es sich anders überlegen mochte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letztemal eine solche Köstlichkeit gegessen hätte, und das, ohne sie teilen zu müssen.
»Ist Lady Callandra hier?« fragte er.
»Ja«, antwortete sie mit vollem Mund. »Ich gehe sie holen.« Sie fragte nicht nach seinem Namen. Wer Fleischpasteten mitbrachte, brauchte keine weiteren Empfehlungen. Monk mußte unwillkürlich lächeln.
Einen Augenblick später kam Callandra durch den Raum; auch sie war müde und schmutzig, aber ihr Schritt ließ ihren unverkennbaren Schwung erkennen, ihr Gesicht einen lebendigen Ausdruck.
»William?« sagte sie leise, als sie schließlich vor ihm stand.
»Was ist passiert? Warum sind Sie hierhergekommen?«
»Fleischpastete?« fragte er.
Sie nahm die Pastete dankend entgegen und wischte sich kurz die Hände an ihrer Schürze ab. Ihr Blick suchte den seinen, und sie wartete augenscheinlich darauf, daß er seine Anwesenheit erklärte.
»Ich habe einen schwierigen Fall«, antwortete er. »Haben Sie Zeit zuzuhören? Es dauert nicht länger als zehn oder fünfzehn Minuten. Sie müssen sich bestimmt ein wenig ausruhen. Kommen Sie, setzen Sie sich, während Sie essen.«
»Haben Sie auch eine für Kristian?« fragte sie; sie hatte erst einen einzigen Bissen von der Pastete genommen, die er ihr gegeben hatte. »Und für Hester? Und Enid? Und natürlich Mary?«
»Ich kenne Enid und Mary nicht«, antwortete er. »Aber ich habe einer jungen Frau mit glattem Haar eine angeboten, die allerdings wohl eher mit Eimern gerechnet hatte.«
»Mary. Gut. Die arme Seele hat bis zum Umfallen gearbeitet. Haben Sie noch mehr Pasteten? Wenn nicht, werde ich mir diese mit den anderen teilen.«
»Das ist nicht nötig.« Er reichte ihr die zusammengerollte Zeitung. »Da sind noch vier drin.«
Callandra nahm das Päckchen mit einem flüchtigen Lächeln entgegen und trug es durch den schwach beleuchteten Raum, um es an Leute zu verteilen, die Monk nur mit einiger Schwierigkeit erkannte. Die schlanke, sehr aufrechte Gestalt mit den straffen Schultern und dem hoch erhobenen Kinn war Hester. Ihre Silhouette hätte er überall erkannt. Keine andere Frau hielt ihren Kopf so, wie sie es tat. Der Mann mußte Kristian Beck sein, ungefähr durchschnittlich groß, mit schmalen Schultern und sehr kräftig. Die dritte im Bunde erinnerte ihn an eine Frau, die er erst kürzlich gesehen hatte, aber bei diesem schlechten Licht und dem Qualm, der aus dem Ofen kam und ihm in den Augen brannte, konnte er nicht sagen, um wen es sich handelte.
Callandra kehrte zurück und aß ihre eigene Pastete, bevor sie kalt wurde. Währenddessen führte sie ihn in einen Nebenraum, der früher, als das Gebäude noch für seine ursprünglichen Zwecke benutzt wurde, wahrscheinlich einmal als Büro gedient hatte. Jetzt stand ein Tisch darin, auf dem sich Decken stapelten, und daneben drei ungeöffnete Flaschen Gin, von denen eine halbleer war, sowie mehrere Essigfässer und ein Krug mit ungarischem Wein. Auf zwei sehr
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