Sein Bruder Kain
klapprigen Stühlen lagen ebenfalls Decken. Callandra räumte sie weg und bot ihm einen Platz an.
»Wozu ist der Gin gedacht?« fragte er. »Verzweiflung?«
»Wenn es so wäre, gäbe es hier keine ungeöffneten Flaschen mehr«, sagte sie grimmig. »Erzählen Sie mir von Ihrem Fall.«
Er zögerte, da er nicht recht wußte, wieviel er ihr über Genevieve erzählen sollte. Vielleicht sollte er Callandra nur die Tatsachen mitteilen und seine eigenen Eindrücke verschweigen.
»Zum Säubern», beantwortete sie schließlich seine Frage.
»Alkohol ist besser als Wasser, vor allem, wenn es aus den Brunnen hier kommt. Nicht für die Böden natürlich. Dafür nehmen wir den Essig. Ich spreche von Tellern und Löffeln.«
Er nahm ihre Erklärung zur Kenntnis.
»Der Fall…«, hakte sie nach und setzte sich auf einen der Stühle, der schwankte, zur Seite kippte und sich dann wieder, wenn auch schief, aufrichtete.
Er setzte sich vorsichtig auf den zweiten Stuhl, aber entgegen seinen Befürchtungen trug dieser sein Gewicht, wenn auch mit beängstigendem Knarren.
»Ein Mann ist verschwunden, ein Geschäftsmann mit hervorragender Reputation, der in guten Verhältnissen lebte«, begann er. »Er schien glücklich verheiratet zu sein und hat fünf Kinder. Seine Frau hat mich mit der Sache betraut.«
Callandra beobachtete ihn, ohne bislang besonderes Interesse zu zeigen.
»Seine Frau sagt, er habe einen Zwillingsbruder«, fuhr Monk mit dem Anflug eines Lächelns fort, »der in jeder Hinsicht das Gegenteil von ihm ist. Er soll gewalttätig, brutal sein und lebt allein, irgendwo hier in der Nähe…«
»In Limehouse?« fragte Callandra überrascht nach. »Warum ausgerechnet hier?«
»Anscheinend aus eigenem Antrieb. Er schlägt sich hier irgendwie durch, profitiert mitunter auch von Geschenken seines verschwundenen Bruders Angus. Trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Charaktere hat Angus den Kontakt nie abgebrochen, obwohl seine Frau erzählt, daß er vor Caleb Angst habe.«
»Und Angus ist derjenige, der jetzt verschwunden ist?«
Die Kerze auf dem Tisch flackerte kurz. Sie steckte in einer leeren Ginflasche, und der Talg lief über das Glas.
»Ja. Seine Frau hat große Angst, daß Caleb ihn ermordet haben könnte. Genaugenommen glaube ich, daß sie davon überzeugt ist.«
Sie runzelte die Stirn. »Sagten Sie Caleb?« Geistesabwesend streckte sie die Hand aus, um die Kerze wieder aufrecht hinzustellen.
»Ja. Warum?« fragte er.
»Ein ungewöhnlicher Name«, erwiderte sie. »Nicht unbekannt, aber doch nicht gerade häufig. Ich habe erst vor einigen Stunden von einem äußerst brutalen Menschen hier in der Gegend gehört, der Caleb Stone heißt. Er hat einen Jungen verletzt und einer Frau das Gesicht aufgeschlitzt.«
»Das ist er!« sagte er hastig und beugte sich ein wenig vor.
»Der Bruder heißt Angus Stonefield, aber Caleb könnte die zweite Hälfte seines Namens durchaus weggelassen haben. Das würde zu dem passen, was Genevieve von ihm erzählt hat.« Er stellte fest, daß er sich so anhörte, als hätte er noch immer die Hoffnung, daß es nicht stimmte, daß sie bei ihrer Schilderung Calebs vielleicht übertrieben hatte. Jetzt war diese Hoffnung mit einem einzigen Satz zunichte gemacht worden.
Callandra schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, wenn das so ist, dann steht Ihnen vielleicht nicht nur eine große Aufgabe bevor, sondern vielleicht eine extrem schwierige. Caleb Stone mag schuldig sein, aber es wird sehr, sehr schwer werden, das zu beweisen. Hier in der Gegend hat niemand viel für ihn übrig, aber die Leute könnten sehr wohl aus Angst schweigen. Ich nehme an, Sie sind den etwas alltäglicheren Erklärungen für sein Verschwinden bereits nachgegangen?«
»Wie taktvoll Sie das ausdrücken«, sagte er mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. Nicht sie hatte ihn wütend gemacht, sondern die Umstände und seine eigene Hilflosigkeit.
»Sie meinen Schulden, Diebstahl oder eine andere Frau?«
»Etwas in der Art…«
»Ich konnte noch nicht beweisen, daß so etwas unmöglich ist, ich halte es nur für unwahrscheinlich. Ich habe seine Schritte an dem letzten Tag, an dem er gesehen wurde, zurückverfolgt. Er ist bis in die Union Road gekommen, ungefähr eine Meile von hier entfernt.«
»Oh…«
Bevor er noch etwas hinzufügen konnte, nahm er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahr und drehte sich um; Hester stand in der Tür. Obwohl er sie zuvor schon in dem großen Krankensaal undeutlich erkannt hatte,
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