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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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war er doch nicht auf eine persönliche Begegnung vorbereitet. Ein Dutzendmal hatte er darüber nachgedacht, was genau er sagen würde, wie ungezwungen er sich geben würde, so als hätte sich seit Abschluß des Prozesses in Edinburgh nichts zwischen ihnen geändert. Sie konnten kaum so tun, als hätte es diesen Prozeß nicht gegeben. Wenn sie auf die Farralines zu sprechen kam, war das durchaus in Ordnung, obwohl das Thema ihr vielleicht peinlich war, was er respektieren würde.
    Sie würde gewiß nicht von dem kleinen Raum sprechen, in dem sie beide gefangen gewesen waren, oder von irgend etwas, das dort zwischen ihnen vorgefallen war. Das wäre eine unverzeihliche Taktlosigkeit. Sie wußte, was ihn zu seinem Verhalten getrieben hatte: Es war die feste Überzeugung gewesen, daß sie beide in jenem Raum sterben würden, und keineswegs ein Gefühl, das über diesen Tag hinaus in ihrem Leben Bestand haben konnte. Jede Bemerkung zu diesem Thema wäre genauso plump wie schmerzlich gewesen.
    Aber Frauen waren sehr eigen, wenn es um Gefühle ging, vor allem um Gefühle, die etwas mit Liebe zu tun hatten. Sie waren unberechenbar und unlogisch.
    Woher wußte er das? War das irgendeine Erinnerung, die an die Oberfläche seines Bewußtseins gedrungen war, oder einfach eine Vermutung?
    Nicht daß Hester besonders weiblich gewesen wäre. Er hätte es weit reizvoller empfunden, wenn sie es gewesen wäre. Sie verstand sich nicht im mindesten auf die Kunst des Kokettierens oder jene Art feinsinniger Schmeichelei, die darin besteht, die Wahrheit nur anzudeuten oder in verbrämter Form auszusprechen. Sie war viel zu direkt… oft geradezu kämpferisch herausfordernd. Sie hatte kein Gefühl dafür, wann es angemessen war, ihre Meinung für sich zu behalten und sich dem Urteil anderer zu beugen. Intellektuelle Frauen waren bemerkenswert unattraktiv. Es war keine reizvolle Eigenschaft, ständig recht zu behalten, vor allem in Angelegenheiten der Logik, des Urteils und der Militärgeschichte. Sie war gleichzeitig sehr klug und bemerkenswert dumm.
    »Stimmt irgend etwas nicht?« Ihre Stimme unterbrach seinen Gedankenfluß. Sie sah erst zu Callandra, dann zu Monk und schließlich wieder zu Callandra.
    »Muß denn irgend etwas nicht stimmen, damit ich hierherkommen kann?« parierte er, während er sich erhob.
    »Hierher?« Sie hob die Augenbrauen. »Ja.«
    »Dann haben Sie Ihre Frage selbst beantwortet, nicht wahr?« fragte er scharf. Sie hatte natürlich recht. Niemand würde ein Pesthaus im East End aufsuchen, wenn es keinen zwingenden Grund dafür gab. Abgesehen von den äußeren Unannehmlichkeiten des Geruchs, der Kälte, der tristen, feuchten Umgebung und der Schmerzenslaute, war es die beste nur denkbare Möglichkeit, sich ebenfalls anzustecken. Er sah ihr ins Gesicht. Sie mußte völlig erschöpft sein. Sie war so blaß, daß ihre Haut fast grau wirkte, ihr Haar war schmutzig, und ihre Kleider schienen viel zu dünn für den kaum beheizten Raum. Sie würde nicht genug Kraft haben, um der Krankheit Widerstand entgegenzusetzen.
    Sie biß sich verärgert auf die Lippen. Es erzürnte sie jedesmal, wenn jemand sie mit Worten übertrumpfte.
    »Sind Sie hergekommen, weil sie Callandras Hilfe brauchen?« Ihr Ton klang gereizt. »Oder meine?«
    Er wußte, daß diese Worte sarkastisch gemeint waren. Er war sich auch des Umstands bewußt, wie oft sie ihm tatsächlich geholfen hatte; manchmal in Situationen wie seinerzeit bei ihrer ersten Begegnung, in denen er wahrhaft verzweifelt gewesen war und sein Leben am seidenen Faden hing. Er hatte ihr nie verzeihen können, daß sie es gewesen war, die ihm mit ihrem Mut und ihrem Glauben an ihn die Kraft zum Kämpfen gegeben hatte.
    Mehrere Antworten schossen ihm durch den Kopf, die meisten davon Kränkungen. Am Ende entschied er sich, hauptsächlich Callandras wegen, für die Wahrheit oder zumindest etwas, das ihr nahe kam.
    »Ich habe einen Fall, der mich in diese Gegend geführt hat, zwei Straßen von hier entfernt, um genau zu sein«, sagte er und sah sie kalt an. »Aber da der Mann, den ich zu finden versuche, der Bruder eines gut bekannten Einheimischen und wahrscheinlich zu diesem unterwegs war, dachte ich, Sie könnten mir vielleicht weiterhelfen.«
    Welche anderen Gedanken ihr auch durch den Sinn gehen mochten - und sie sah sowohl gereizt als auch unglücklich aus in ihrer Müdigkeit -, sie entschied sich dafür, Interesse zu zeigen.
    »Von wem sprechen Sie? Wir hatten nicht viel Zeit,

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